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ERLEBTES OSTERREICH
unsere eigenen mehr oder minder revolutionären Wege. Wenn ich meine satirischen kleinen Gerichtsgeschichten überlese, die ich als junger Hilfsrichter hinter dem Rücken meiner Vorgesetzten veröffentlichte, so kann ich mir den Ehrentitel eines bon sujet, eines kaisertreuen Untertanen, kaum zusprechen. An den Begriffen von Freiheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit hielt ich fest. Aber auch diesen Glauben, wenn es einer war und nicht nur Rechthaberei, bekannte ich nur in der Spiegelschrift einer anklagenden Satire. Im Grunde war ich Republikaner, und es bedurfte der nachdrücklichen Belehrung des ein Vierteljahrhundert später über uns hereinbrechenden Faschismus und Nazismus, um uns und mich für die Reize einer reformierten Monarchie empfänglicher zu machen. Hitler wäre unter Habs burg nicht möglich gewesen.
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Die zehner Jahre unseres Jahrhunderts waren in Wien wie anderwärts ein Zeitalter des Materialismus. Man erklärte die Welt aus dem Protoplasma Häculi- Häckels ,, Das Welträtsel gelöst lag diesem kühnen Erklärungsversuch zugrunde und die Geschichte aus dem ehernen Lohngesetz. Fertig. Der Mensch blieb bei dieser den Bauch füllenden Vereinfachung ebenso außer Betracht wie Gott . ,, Dieu n'est plus actuel" hatte ein französischer Zeitungsmann einem älteren Schriftsteller bedeutet, der einen Artikel über ein religiöses Thema vorschlug. Aber selbst diejenigen, die nicht so weit gingen in der Ablehnung eines göttlichen Wesens, wagten nicht, sich zu einer höheren Weltordnung, die ins Transzendentale reichte, zu bekennen. Man hielt sich an die viktorianische Formel:„ Über Religion und Politik spricht man nicht", die bei der Ähnlichkeit der beiden Epochen ebensowohl für das franzisko- josephinische Österreich galt, und tat selbst, wenn man nicht ungläubig war, aus Wohlerzogenheit, um die anderen nicht zu verstimmen, so,


