O DU MEIN OSTERREICH! 65
war und ihm der diensthabende Ministerpräsident eine Liste der Persönlichkeiten vorlegte, die, weil sie sich um die Durch- führung der Gesetzesvorlage verdient gemacht hatten, mit einem Orden zu bedenken waren, gab er das Verzeichnis seinem Ver- trauensmann mit dem Bemerken zurück:„Sie haben einen ver- gessen, nämlich Mich.“
Trotzdem, Franz Joseph , der bis zuletzt Mir und Mich mit einem großen Anfangsbuchstaben schrieb, war kein Freund des Volkes, höchstens der Völker. Er hatte im Jahre 1848 das Volk von Wien näher kennengelernt und ihm die Bekanntschaft nie ganz vergessen. Wenn er im Alter das Allgemeine Wahlrecht einführte, so war es nur ein letzter verzweifelter Versuch, das nationale Problem des Völkerstaates auf einem sozialen Umweg zu lösen. Doch wußte er selbst am besten, daß der Versuch ver- zweifelt war. Gestützt auf seine eisgrauen Paladine, die mit gebeugten Häuptern und ermatteten Schultern seinen Thron stützten, wußte er genau, daß er der letzte war, der den Zwitter- staat noch zusammenhalten konnte. Als der pflichteifrigste unter allen seinen Beamten tat er seine Pflicht buchstäblich bis zum letzten Atemzug. Aber er betrachtete es nicht als seine Pflicht, an den Fortbestand des von ihm regierten Staatswesens zu glauben. Das ging ins Transzendentale, und mit dem Tran-
szendentalen stand er nicht gut.
Das war die Grundstimmung im Vorkriegsösterreich des Jahrhundertanfangs, den aus der Tiefe heraufdrohenden Baß- figuren in Mozarts„Don Juan“ vergleichbar, die die Lebenslust des Helden untermalen. Man lebte auf Abbruch, wie in der Zeit der Französischen Revolution. Und der Abbruch kam.
Den Staat, wie er nun einmal war, bejahten nur noch die rückschrittlichsten unter meinen Altersgenossen, die von ihm leben wollten und von denen wir schon damals wußten, daß sie später Hofräte werden würden. Wir anderen glaubten an die Aufrechterhaltung des Privilegiertenstaates nicht und gingen
5 Verlorene Zeit


