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ERLEBTES OSTERREICH

quartier aufgeschlagen hatte. O du mein Österreich !" konnte ich noch einmal im Marschtakt seufzen. Ich hätte es anläßlich des dreißigsten Todestages Mark Twains auch über das New­Yorker Radio seufzen mögen, erhielt aber den Bescheid, daß der Todestag ungeschickterweise auf einen Sonntag fiel, an dem an den Tod zu erinnern das vergangenheitsscheue Radio für unstatthaft hielt.

Daß es vergangenheitsscheu gewesen wäre, war der geringste Vorwurf, den man Österreich machen kann. Das Übel, das an seinem Lebensmark zehrte, lag in gerade entgegengesetzter Richtung, nämlich in der Unterschätzung der Gegenwart und ihrer Bedeutung für das Individuum wie für die Allgemeinheit. Alles war wie der Geschichtsunterricht in der Schule: erst kam das Altertum, dann das Mittelalter, dann die Neuzeit, aber die neueste kam überhaupt nicht. Bei der Schlußprüfung im Gym­nasium, der sogenannten Matura, die uns nach zwölf Schul­jahren universitätsreif machte oder als ,, Maturanten " dem praktischen Leben überantwortete, konnte man recht wohl an der Schlacht bei Cannae scheitern, die vor zweitausend Jahren stattgefunden hatte, aber die von Österreich so bitter verlorene Schlacht bei Königgrätz , die den Jahresstempel 1866 trug, wurde ebenso wie die Wiener Revolution von 1848 im Lehrbuch nur kursorisch behandelt, das heißt, bei der Reifeprüfung mit Still­schweigen übergangen. Wozu die jungen Leute auf Ideen bringen, die ihren Aufstieg als pensionsberechtigte Staatsbeamte nur gefährden konnten? Und auch das immer etwas unberechen­bare Leben mußte sich diesem historischen Prokrustesbett be­quemen, bevor man ihm das Recht, sich weiterzuentwickeln, zu­gestand. Hier lag auch die Grenze des österreichischen Liberalis­mus, des politischen wie des weltanschaulichen. Als im Jahre 1908. ,, Salvarsan", das damals neue Mittel gegen die Syphilis, erfunden wurde, war das führende liberale Blatt kühn genug, über dieses anstößige Thema einen Leitartikel zu bringen. Er