56 ERLEBTES OSTERREICH

geblasen wurde, jeder die Gabel niederzulegen und sich an seinen Platz zu begeben habe. Richtig. Aber warum die Lüge? Und wenn pädagogische Lüge oder Irreführung, warum dann Strafe für den schuldlos Irregeführten, der auf das Wort seines Vorgesetzten gebaut hatte? Hier blieb ein bitterer Rest, der uns die zähe Speise des Herrschaftsstaates, an dem wir kauten und würgten, nicht eben schmackhafter machte.

Übrigens hatte ich, meine Verurteilung beim Rapport voraus- sehend, eine wohlfeile Taschenausgabe von JacobsensNiels Lyne zu mir gesteckt, den ich in meiner halbdunkeln Zelle, auf dem Wasserzuber unter der Kellerlucke stehend, zum größten Teile durchlas. Warum geradeNiels Lyne? Weil Jacobsen ein Däne, das heißt ein Ausländer war, und weil alle jungen Österreicher ‚jener Tage in erster Reihe ausländische Schrift- steller lasen; es entsprach einer jahrhundertelangen Tradition. Auch war Jacobsen, den ich damals bewunderte und noch heute bewundere, bereits tot, was eine andere Voraussetzung des emsigen Gelesenwerdens überall in Europa , besonders aber in Österreich bildete, das eine ausgesprochene Vorliebe für die im Grabe mürb gewordenen Dichter zu allen Zeiten an den Tag legte. Die noch lebenden hatten es schwerer, zumal in Wien . Von diesen sagte man gerne:Ich kenn ihn doch ohnehin, wozu brauch ich ihn zu lesen? Oder in besonderen Fällen:Ich bin doch mit ihm befreundet, wozu brauch ich ihn zu lesen? Womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß meine lieben Lands- leute schlechte Leser wären; im Gegenteil, sie sind die besten und es ist wohl der Mühe wert, für sie zu schreiben. Nur daß sie, von einem tiefen Mißtrauen gegen die Gegenwart erfüllt, wie sie es in allen Stücken sind, gern ein Vierteljahrhundert

länger warten. Wenn sie es ausnahmsweise nicht tun, haben sie Hemmungen, die sie vor sich selbst entschuldigen zu müssen glauben, wie jener verstorbene Wiener Universitätsprofessor, der versehentlich eine Novelle eines neueren Erzählers kurz