AUF ALTEN WEGEN INS NEUE JAHRHUNDERT

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Die Voraussetzung war in meinem Falle leicht erfüllt. Ich kann mich meinem Freund Stephan Zweig nicht anschließen, der in seiner nachgelassenen ,, Autobiographie" gegen das öster­reichische Gymnasium unserer Tage wettert. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir im Sommer hinter geschlossenen Fenstern über unseren Büchern hätten schwitzen müssen, noch auch, daß unsere Professoren ausnahmslos Dummköpfe, Pedanten und Sadisten gewesen wären. Es waren recht nette, gebildete Männer unter ihnen, von denen man einiges lernen konnte, und ich habe nicht ungern gelernt. Ich war nicht unglücklich in unserem Gym­nasium, das über unseren Dichterwinkel täglich zweimal, am Vormittag und Nachmittag, zu erreichen ich eine tägliche Marsch­leistung von vier Meilen zu vollbringen hatte. Das Lernen fiel mir leicht. Eine Zeitlang war ich sogar Vorzugsschüler, was ich offen eingestehe als einen kaum zu bemäntelnden Makel in meiner Vergangenheit. Daß ich nicht in allem und jedem mit meinen Lehrern übereinstimmte, versteht sich am Rande, wie auch, daß sie nicht immer restlos mit meinem Wandel zufrieden waren, wozu wahrlich kein Anlaß vorlag. Mein Griechisch­professor zum Beispiel war es ganz und gar nicht. Ich sehe ihn noch deutlich vor mir, einen schönen, mit edler Nettigkeit gekleideten Mann Mitte der Dreißig, mit pfeilgerader Grie­chennase, die aussah wie das Gipsmodell einer Nase, und einem wallenden Vollbart, der braun auseinanderfloß. Wenn er den Hut abnahm, mit einer Gebärde, wie man ein Visier auseinan­derschlägt, hatte ich immer das Gefühl, daß es eigentlich ein Helm sein müßte, ein Raupenhelm. Im Geiste nannte ich ihn Diomedes , ich könnte nicht sagen warum, wahrscheinlich, weil Diomedes , der reisige Held", wie er in der Ilias hieß, nur ein Held mittleren Ranges war, weder Achilles noch Hektor und nicht einmal Ajax, aber immerhin ein Held. Es war ein heldenhaftes, ein bärtiges Zeitalter, in dem wir lebten und das unser Griechischprofessor auslegte und verkündete.