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ERLEBTES OSTERREICH

männischem Realismus, von Weltklugheit und feurigem Idealis­mus ist im Charakterbilde beider zu finden, und was Lassalle an hinreißender agitatorischer Dynamik vor dem Nachfahren voraus hatte, ersetzte dieser durch den fürstlichen Anstand einer unmittelbar einleuchtenden Erscheinung. Der blauschwarze Bart, das dunkle, träumerische Auge, der große Blick, die ebenmäßig hohe Gestalt, das edelblasse Antlitz mit den ausdrucksvollen, wie in Wachs bossierten Zügen prägten sich dem ihm Begeg­nenden ein wie das schönste Bild in einer Galerie. Ich bin auf meinem gewundenen Lebensweg nie einem magischeren Men­schen begegnet, noch einem, dessen Magie mit so viel Anmut verbrämt gewesen wäre. Epaphroditus, so erinnerte er in einer seiner sichtlich an Anatole France geschulten ,, Philosophischen Erzählungen", nannten die Römer den Götterliebling. Epaphro­ditus war er selbst, der Titel paẞt zum Verfasser.

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Wenige Tage vor seinem Tode verabschiedete er einen seiner letzten Besucher auf der Terrasse des Sanatoriums, in dem die Kunst der Ärzte den aussichtslosen Versuch unternahm, seinen kranken Herzmuskel wieder lebenstüchtig zu machen. Es war Abend, Sonnenuntergang, die verklärte österreichische Landschaft breitete ihren frühsommerlichen Zauber im Lichte des sinkenden Tages noch einmal vor ihm aus. Er lächelte, schaute seinem Gast in die Augen und sagte, an der Schwelle zögernd, bevor er ins Dunkle trat: ,, Le soir bon mon soir soir!" Das Prophetische und das französische achtzehnte Jahr­hundert, in dem man immer noch ein hübsches Wort für den letzten Atemzug bereithielt, verbindet sich auf eine seltsame Weise in seinem Bilde. Aber das Prophetische machte es hinter­gründig. ,, Wenn Herzl in mein Büro kommt, um über den Ein­lauf zu berichten", sagte sein Herausgeber Moritz Benedikt von ihm ,,, so weiß ich nie, ob es mein Feuilletonredakteur oder nicht vielleicht doch der Messias ist."- Er sagte es lächelnd; aber er wußte es wirklich nicht. Niemand wußte es.

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