BART DES PROPHETEN

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von meiner Niedrigkeit erhebend, am Ende doch das schönere Messer davon.

Mein Vetter Theodor liebte es, solche Charakterprüfungen mit mir anzustellen. Eine andere gleicher Art gab er viele Jahre später im Hause des Berliner Journalisten Lewisohn, wo er mich einführte, in meiner Gegenwart zum besten. Als zwei­jähriges Kind, wußte er zu erzählen, war ich von einer herz­erquickenden Dummheit gewesen. Er machte die Probe darauf, indem er mir ein Stück Zucker unters Klavier legte. Ich kroch dem Zucker nach, steckte ihn in den Mund, und richtete mich stolz empor, wobei ich mit dem Kopf an das von unten weniger schöne Klaviergebälk anstieß. Der dumme Kerl", rief mein Vetter, sich mit meiner Mutter über meine unsägliche Dummheit freuend. Als er aber eine Woche später zum soundsovielten Male den Versuch wiederholte, geschah etwas völlig Unerwar­tetes. Ich kroch unters Klavier, ich steckte den Zucker in den Mund, aber anstatt, wie erwartet, mich jetzt aufzurichten, kroch ich, an dem Zucker saugend, bis in die andere entgegengesetzte Ecke des Zimmers, um erst dort, langsam und scheu nach oben blickend, mich vorsichtig in die senkrechte Stellung zurückzube­geben. ,, Und so", schloß mein Vetter in dem ihm befreundeten Hause den Bericht ,,, so, mein lieber Raoul, wird es dir im Leben immer gehen." Diese launig philosophische Schlußwendung war bereits echtester und bester Theodor Herzl . Sie schlug den Grundton seiner bezaubernden Kinderfeuilletons an, die, aus eigenen Erlebnissen schöpfend, eine Zeitlang das Entzücken un­zähliger junger Mütter Wiens waren. ,, Das Jahrhundert des Kindes", wie die schwedische Bahnbrecherin Ellen Key es vor­aussagte, kündigte sich bereits an, und wie im viktorianischen England liebte man im franzisko- josephinischen Wien , über Kinder zu plaudern, von Kindern zu erzählen. Ich selbst schrieb als Zwanzigjähriger, sicher unter dem Einfluß Herzls, eine solche kleine Geschichte: ,, Stanniol", die dann dreißig Jahre lang in

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