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ERLEBTES OSTERREICH
Er war einundzwanzig Jahre alt, ich noch nicht sechs, als Mama in meiner Begleitung bei ihrer Cousine, Theodors Mutter, Besuch machte. Ich wurde in sein Zimmer abgeschoben und plötzlich stand ich, in einem Winkel von fünfundvierzig Graden aufwärts blickend, vor meinem dreimal so großen Vetter, der studierend zwischen Büchern und Schriften im Raume auf und ab schritt.
Das erste, was er lächelnd zu mir herunterfragte, war, ob ich mir etwas wünsche. Es war einer der liebenswürdigsten Züge in seinem Wesen, daß er Verständnis für die Kinderseele hatte.
Ja, erwiderte ich mit einer Gefaßtheit, die auf eine verschwiegene längere Vorbereitung schließen läßt, ich hätte einen großen Wunsch: ein Federmesser. Worauf mich mein beredter Vetter wortlos an der Hand nahm und drei Stockwerke tief über eine nach Reibsand riechende steinerne Treppe hinunterführte.
Alsbald traten wir in einen nahegelegenen Gassenladen, dessen armseliges Schaufenster bereits das Schönste erwarten ließ und in dem es denn auch innerlich von Messern aller Art nur so wimmelte und blitzte. Onkel Theodor von Messern umleuchtet war der Vetter plötzlich zum Onkel aufgerückt ließ mir zwei, das eine in einer Perlmutterschale, das andre in einer Hornschale, zur engeren Wahl vorlegen.„ Das da", sagte er, mit einem zwinkernden Blick zu dem verständnisvoll lächelnden Verkäufer auf die Perlmutterschale deutend, ,, kostet 95 Kreuzer, und das" er deutete auf die sogar etwas längere Hornschale ,, einen Gulden fünfzig. Welches willst du haben?" Ich entschied mich, zur Bescheidenheit erzogen, für das wohlfeilere. ,, Das da!" sagte ich, auf die Perlmutterschale deutend. Es war aber das teurere und mein guter Onkel, der in seiner Jugend manchmal eine zu geringe Meinung von den Menschen im allgemeinen hatte, hatte mich bloß auf die Probe stellen wollen, indem er die Preise vertauschte. So trug ich, mich
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