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ERLEBTES OSTERREICH
Schneider in Österreich so wenig zu reden hatten. Es kam in allen Teilen des damals noch groß dastehenden VierzigMillionen- Reiches weniger darauf an, wer den Rock gemacht hatte, als wer ihn trug. Und übrigens war es, nach allerhöchstem Vorbild, meistens ein Uniformrock.
Mein Vater war kein Österreicher. Er stammte aus dem Reich, aus dem fränkischen Dorf Hersbruck bei Nürnberg , von wo der beider Elternteile beraubte Müllerssohn, siebzehnjährig, die Donau abwärts ziehend, nach Österreich auswanderte, um sich aus dem damals noch deutsch sprechenden Raab in Ungarn seine Frau zu holen. Bald darauf, kaum zwanzigjährig, machten sich die beiden, Vater arisch, Mutter von Haus aus jüdisch, die neugeschaffene liberale Errungenschaft der österreichischen Zivilehe zunutze, um in Wien ein vom Bürgermeister eingesegnetes Paar zu werden. In den folgenden ersten Jahren der jungen Ehe kamen zwei Kinder und vier Fabriken zur Welt, ätherische Ölfabriken, wie sie mein Vater, auf die Zukunft des Erdöls vertrauend, nicht nur träumte, sondern auch zum nicht geringen Teil mit eigener Hand aufbaute und bediente. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er nach der Arbeit, Pechkügelchen im Bart, ein Stückchen Speck und Brot, das ihm Mama in einem Körbchen in die Fabrik nachträgt, als Abendmahl unter dem Apfelbaum verzehrt... Erst als die vierte dieser Fabriken infolge geldlicher Unterernährung eingegangen war, wurde der verunglückte Unternehmer Kaufmann auf fremde Rechnung. Damit waren die Aufstiegsmöglichkeiten des Müllersohnes, jetzt Mühlenvertreters, offenbar begrenzt. Immerhin wuchsen wir Kinder, ein ganz kleiner Bruder war noch hinzugekommen, in einem zwar winzigen, doch immerhin eigenen Hause auf. Es lag an der Zufahrtstraße zu den Rothschildgärten auf der ,, Hohen


