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ERLEBTES OSTERREICH
Von all dem erfuhr unsere kleine Gymnasialklasse nichts und das loyale Bürgertum nicht wesentlich mehr. Ein lebenslustig ausschweifender junger Prinz, ehrgeizig und begabt, und eben darum bei Lebzeiten des Trägers der Krone zu einer Art fürstlichen Müßigganges verurteilt, war in einem ausnahmsweise ernst zu nehmenden Liebeshandel, so oder so, ums Leben gekommen: das war so ungefähr, meist unausgesprochen, die allgemeine Meinung im Bürgertum, und daß sie das erschütternde Ereignis gewissermaßen bagatellisierte, entsprach der gleichfalls unausgesprochenen Absicht des Hofes. Man wünschte aus Gründen der Staatsräson, vielleicht auch aus ,, Takt", um es dem schwergeprüften Vater etwas leichter zu machen, die geschichtliche Bedeutung des ums Leben gekommenen Thronerben nicht zu übertreiben. Nichtsdestoweniger war sie vorhanden. Rudolf war nicht nur ein mißvergnügter junger Ehemann, den seine ihm von Papa ausgesuchte Gemahlin zum Gähnen langweilte und der für ihre lähmende Gesellschaft außerhäuslich wohlfeilen Ersatz suchte; er war auch ein begabter Schriftsteller, ein geschulter, weitblickender Politiker und ein in Entwicklung begriffener Staatsmann, von dessen zielbewußtem Erneuerungswillen sich allerhand für die Zukunft Österreichs hätte erhoffen und erwarten lassen. Er war ein Gegner der sogenannten ,, deutschen Orientierung", die das Unglück der Doppelmonarchie wurde; er haẞte Preußen und liebte Frankreich , obwohl es eine Republik war. Er war nicht nur ein Libertin, sondern auch ein Liberaler, der sich über die Engstirnigkeit des in leerer Förmlichkeit erstarrenden Habsburgerhofes wie seine Mutter, die Kaiserin Elisabeth , lustig machte und seine Freunde unter Bür gerlichen zu wählen vorzog, ja sogar unter Journalisten. Abkehr von dem despotischen Rußland und dem kaum minder reaktionären Deutschland Wilhelms II.; Entente cordiale mit dem freisinnigen Frankreich ; dies war sein politisches Konzept, das, hätte er es weiterlebend vertreten, der Welt möglicher


