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Zum ersten Male seit 45 Monaten betrat Bert die Außenwelt wieder an der Seite eines ihn begleitenden Aufsehers in Uniform, eines Mannes von gutmütigem Wesen und gewisser Behäbigkeit. Sie schritten der Stadtmitte, dem Justizpalaste zu, der zwar schon erheb­lich gelitten hatte, dessen neuer Anbau jedoch noch intakt war.

Aber schon nach den ersten Minuten des Marschierens wollte dem Häftling der Fuß stocken.... Was ist aus dieser so grundheiteren, daseinsfrohen Stadt geworden, die in ihrer Lebensart doch nie mit dem so anders­artigen Berlin zu vergleichen war? War das überhaupt noch sein liebes München? Er erkannte es kaum noch wieder. Soviele Jahre voll Tod, Leid und Kummer hatten sich dazwischen geschoben, soviele Schicksale allerschwerster Art abgerollt, daß sich das Bild der munteren Kunststadt ausnahm wie ein von Bubenhand verschandeltes Freskobild eines Meisters.

Tatsächlich ein zweiter Dreißigjähriger Krieg! War etwa die menschliche Zerstörungswut damals größer gewesen als heute? An Stelle der Metzeleien jener Zeit war nun die unerbittliche Grausamkeit des Materials getreten... sieh dir die Haustrümmer an: wenn Menschen schweigen, dann werden diese Steine reden! Sie tun es anklagend genug: wohin habt ihr uns gebracht? Und zwischen den hohen Schutthaufen, um die hohläugig ragenden Wände mit rauchgeschwärzten Trümmern geistern die Schatten der Erschlagenen am hellichten Tage.... Hier, wie kaum sonst irgendwo, siehst du der Verruchtheit des Krieges voll ins Gesicht, in das haẞ­entstellte Antlitz des Wahnsinns. Denn das ist schon mehr eine Erdbebenzone als eine moderne Großstadt! Der Krieg hat die Städte selbst- und zwar in ergreifen­dem Ausmaße- alt und verbraucht gemacht, zu trost­losen Greisen degradiert.

Erschütternd gestand sich Bert: was sind in der Tat irdische Güter? Eine Hand voller Sand! Über all der Vernichtung scheint ihm das Antlitz des zweigesichtigen Gottes zu schweben, des Kriegsgottes Janus, der den

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