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näherten, von dem es nur noch 20 Kilometer bis Bad Kleinen sein sollten. Auf der Landstraße bewegte sich ein Strom von Soldaten, ohne Gewehre, meist auch ohne Tornister oder Brotbeutel. Sie gingen im Eilmarsch­tempo. Nur Verwundete saßen am Straßenrand oder hinkten mühsam in westlicher Richtung. Mit einem Mal begannen etliche Soldaten zu rennen und schon rannten alle. Ich rief die uns Überholenden an: Was ist denn geschehen?" Keiner gab eine Antwort. Sie liefen, so schnell sie nur konnten. Emmi und ich waren kaum noch fähig zu gehen, geschweige denn zu rennen, und ein entsetzlicher Durst quälte uns. Wir fragten die am Wegrand sitzenden Verwundeten nach dem Grund der Eile. Die russischen Panzer sollen bereits drei Kilometer von hier sein, und wenn einer rennt, dann stürzen eben alle!"

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An beiden Seiten des Weges lagen zerbrochene Gewehre, Munition aller Art, steckengebliebene Autos und immer wieder gefallene Pferde. Manchmal kam ein Soldatengrab und auf dem Kreuz baumelte der Stahlhelm. Zwischen dem Durcheinander der weggeworfenen Tornister und Sachen lagen im Straßengraben zerrissene Fotografien von Männern in schmucker SS- Uniform und Ahnenpässe". Der Durst ließ uns in ein Bahnwärterhäuschen gehen und um Wasser bitten. Als wir in die Stube traten, war der Tisch gehäuft voller Konserven, Schokolade, Zigaretten, Rosinen alles uns bekannte Lebensmittel aus den Paketen des Inter­nationalen Roten Kreuzes. Die Bahnwärterfrau erläuterte, daß ihre Kinder diese Schätze am Eisenbahndamm gesammelt hätten. Soldaten, die einen Gütertransport geplündert hatten, bekamen es nun, da sie sich der amerikanischen Front näherten, mit der Angst zu tun und warfen das Gestohlene von sich. Wir zwei Konzentrationäre liefen auf dem Bahndamm entlang und wählten wie im Schlaraffenland: dort eine Büchse Fleisch, hier Schokolade, da Trockenmilch, dort Zigaretten oder Rosinen und füllten unsere Rucksäcke bis zum Rande mit den Schätzen, die man für uns ausgestreut zu haben schien. Dadurch wurden sie aber bleischwer und wir immer müder und müder. Es war schon Nacht, und wir schleppten uns neben den Eisenbahnschienen langsam vorwärts. Da nahte ein Zug in Richtung Westen. Wenn der uns doch mitnehmen würde!" Und richtig, er verlangsamte seine Fahrt und hielt. Güterwagen, Personen­wagen waren bunt durcheinandergekoppelt und voll von Frauen, Kindern und Männern. Wir baten vom Bahndamm her, uns beim Einsteigen zu helfen, die Beine wollten nicht mehr. Ein paar Männer zogen uns auf einen offenen Güterwagen und wir dankten überschwenglich. Dieser Zug hatte kurz vor Eintreffen der Russen Neu- Strelitz verlassen. Die Eisen­bahner hatten ihn zusammengestellt, um ihre Familien und alles, was noch flüchtete, darauf zu laden und zur amerikanischen Front hinüberzu­fahren. Ganz langsam ging die Fahrt weiter. Keiner wußte, was nun geschehen würde. Angeblich standen auf der Strecke bis Bad Kleinen fünf Lazarettzüge mit Schwerverletzten, aber niemand dürfe die amerika­284

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