Erster Teil
KASAK STAN
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Es war der 30. April 1937. Moskau bereitete sich auf die Feier des 1. Mai. Die starke russische Frühlingssonne überflutete die Ulitza Gorkowo. Ich versuchte mit meinem Paket unterm Arm hastig an dem sich langsam vorwärtsschiebenden Menschenstrom vorbeizukommen. Lautsprecher, die an den Häuserwänden befestigt waren, wurden ausprobiert. Der Triumphmarsch" aus Aida" schmetterte über die Straße. Ich wollte in die Seitengasse einbiegen, um nur schnell zu entkommen, das nicht mehr hören zu müssen, aber eine Menge Menschen, Männer und Frauen, noch in die winterlichen, grauen Wattejacken gekleidet, stauten sich an der Ecke und füllten die ganze Straßenbreite, um zuzusehen, wie ein riesiges Stalinbild mit Stricken an der Hausfassade emporgezogen wurde. Wenn ich nur nichts mehr sehen brauchte! Wohin man auch blickte, überall Stalinbilder. Aus den Schaufenstern, von den Häuserwänden, über den Eingängen der Kinos, immer das gleiche Gesicht mit dem hängenden Schnurrbart. Und dröhnend widerhallte ein Wiener Walzer in der schmalen Seitengasse, die zur Petrowka führt.
Mit Herzklopfen rannte ich durch die Straßen. Zwei Tage hatte ich versäumt, mich zwei Tage lang meinem Schmerz überlassen, während er in irgendeiner Zelle der Lubjanka saß. Wie konnte ich nur!
Ob man mir das Paket mit den Lebensmitteln und der Wäsche überhaupt abnehmen wird?
Ich flüsterte die russischen Sätze vor mich hin, um mich nachher dort vor dem Gefängnisschalter nicht zu versprechen:,.Mein Mann, Heinz Neumann , wurde am 27. April von der NKWD verhaftet. Wo befindet er sich? Kann ich ihn besuchen? Kann ich ein Paket und einen Brief abgeben?"
Der Lubjanka schräg gegenüber lag die Auskunftsstelle für die Hinterbliebenen der durch die NKWD Verhafteten. Der Raum war gedrängt voll Menschen. Vor einem Schalter hatte sich eine lange, vielfach gewundene Schlange gebildet. Die dort Wartenden wagten nicht mehr laut zu sprechen. Schon hier wehte Gefängnisluft. An der Eingangstür
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