Ich näherte mich einer Gruppe Soldaten und bat um eine Landkarte und ein Stück Papier , dann fragte ich vorsichtig, ob sie wüßten, wo die russische Front verliefe. Sie teilten bereitwillig mit, daß die Russen im Osten an der Oder standen, Berlin aber bereits erreicht hätten und man annehmen müßte, sie gingen in aller Kürze auch an der Oder zur Offensive über. Die Amerikaner und Engländer lägen seit längerer Zeit an der Elbe . Auf meine Frage, ob es noch eine Möglichkeit gäbe, westlich Berlin zwischen beiden Fronten hindurch, die Stadt Potsdam zu erreichen, erwiderten sie, daß theoretisch diese Möglichkeit jetzt noch bestände, aber in einigen Tagen wäre das schon ausgeschlossen. Ich ließ mich beraten, auf welchen Straßen man sich in der Richtung nach Potsdam bewegen müsse. Sie zeichneten mir eine Skizze und schlugen vor, mit dem morgigen Flüchtlingszug bis Neu- Strelitz zu fahren und dann die Landstraße nach dem Südwesten zu benutzen. Ich hoffte, in Potsdam meine Mutter zu finden und mit ihr nach dem Westen in amerikanisch besetztes Gebiet zu fliehen.
In der ersten Nacht blieben wir trotz Flieger alarm auf dem Bahnhof liegen. Zu mir trat Emmi Görlich, die auch zu den Entlassenen gehörte. Trotz bitterer Gefühle gegen sie konnte ich nicht ablehnen, als sie so ratlos klagte, daß Helene Kretschmann und sie nicht wüßten, was zu tun sei und bat, sie mitzunehmen.
Wir erkämpften uns einen Platz im Flüchtlingszug. Eigentlich geschah dies alles mit halbem Bewußtsein. Im Coupé drängten sich Zivilisten und Soldaten durcheinander. Da saßen auf der Bank mehrere junge Männer, die so seltsam unbeweglich vor sich hinstarrten. Nach einer Weile wußten wir, es waren blinde Soldaten, die Evakuierten aus einer Augenklinik. Ein paar Volkssturmmänner wandten sich an uns drei und fragten, was die Farbenkreuze auf unseren Mänteln zu bedeuten hätten. Wir erzählten es ihnen. Sie beschenkten uns mit Geld und Konserven und gaben gute Ratschläge. Von ihnen erfuhr ich, daß vor kurzem die Stadt Pots dam einen schweren Luftangriff erlitten hatte und die Vorstadt, in der meine Mutter wohnte, völlig zerstört sei. Durch diese Nachricht erlahmte mit einem Schlag meine Tatkraft, da nach den Erregungen des gestrigen Tages und dem Wirbel der heutigen Freiheit mich nur das festvorgenommene Ziel Potsdam aufrechterhalten hatte. Mir schwand jeder Mut zu weiterem Handeln. Die nächste Station sollte Neu- Strelitz sein. Aber was war Neu- Strelitz, wenn meine Mutter vielleicht unter den Trümmern des Hauses begraben lag? Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und passierte ihn, ohne zu halten. Er durchfuhr sämtliche Stationen und hielt erst in Güstrow , im Norden Mecklenburgs . Alle Flüchtlinge sollten so weit wie möglich nach Norden abgeschoben werden. Da standen wir drei inmitten hunderter Flüchtlinge und Soldaten. Ratloser als alle miteinander. Was sollte man in einer solchen Freiheit tun, wohin sich
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