Nach der Schreibstube ging es hinaus zum Tor zur Politischen Ab­teilung", und man sollte es kaum für möglich halten

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- es war der 21. April 1945 sie gaben uns einen Schein, auf dem geschrieben stand, daß wir entlassen seien und uns binnen drei Tagen bei unserer zu­ständigen Gestapostelle zu melden hätten.

In den gekreuzten Lagerkleidern, ohne Geld, nur mit einer, Trans­portverpflegung" von einigen Scheiben Brot, ohne Lebensmittelmarken, marschierten wir in Fünferreihen nach einem letzten heißen Gruß an die Freunde durch so viele Jahre gemeinsamen Leidens, begleitet von der Oberaufseherin Binz, zum Lagertor hinaus in die ersehnte Freiheit. Auf der Straße hinter der Wachstube kommandierte irgend jemand Halt!" Eine fragte die Binz : ,, Frau Oberaufseherin, mein Heimatort liegt am Rhein , da werde ich doch nicht hinkommen, wie soll ich mich denn da bei der Gestapo melden?" Die kategorische Antwort der Binz lautete: ,, Das haben Sie selbst zu entscheiden, von jetzt ab können Sie sich als Flüchtling betrachten!" Und damit machte sie kurz kehrt und wir liefen weiter, so wie wir es nun einmal gewöhnt waren, schweigend in Fünfer­reihen mitten auf der Straße, vorbei an SS Häusern in der Richtung auf Fürstenberg. Mir kam nicht einmal der Gedanke, daß das nun die Straße der Freiheit sei. Erst nach einer Strecke Weges blieben einige Schwache zurück und anderen schien einzufallen, daß man ja nun wieder ein Mensch sei und auf dem Bürgersteig gehen könne. Als sich eben die Kolonne aufzulösen begann, erscholl eine ans Kommandieren gewöhnte Stimme: ,, Wir können doch unmöglich wie ein Sauhaufen nach Fürsten­berg hineinmarschieren! Bleibt mal in Fünferreihen!" Da erwachte die erste freiheitliche Regung, und mit den höhnischen Antworten: ,, Den Ton gewöhne dir mal schleunigst ab, diese Zeiten sind nun vorbei!" begann man den gekrümmten Sklavenrücken zu strecken.

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Der Fürstenberger Bahnhof lag gedrängt voller Flüchtlinge und desertierter Soldaten. Dort erfuhren wir, daß die Zugverbindung nach dem Süden unterbrochen sei und die Russen Berlin nördlich umgingen. Man sprach von einem Flüchtlingszug, der am nächsten Morgen Fürsten­berg in nördlicher Richtung passieren sollte. Wir sechzig Entlassenen standen unschlüssig in dem Gewühl des Bahnhofs. Niemand befahl uns mehr, keine Sirene hieß uns aufstehen, antreten oder schlafengehen. Nach den Jahren Häftlingsdasein standen wir Entmündigten plötzlich vor eigenen Entscheidungen. Diesem schweren Schritt waren viele nicht gewachsen. Wie ich später erfuhr, machten sich einige in völliger Rat­losigkeit auf den Rückweg nach Ravensbrück . Sie flohen vor der chaotischen Freiheit, die persönliche Initiative verlangte.

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Am Fußboden vor dem geschlossenen Fahrkartenschalter lag Melody und erbrach sich.,. Laß man", erwiderte sie auf besorgte Fragen, wenn ich nur bis Berlin komme, wird alles wieder gut!"

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