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wenden? Potsdam zu erreichen hatte seinen Sinn verloren. Wir machten uns auf die Suche nach einer Unterkunft. Die Stadt quoll über von Menschen. Aus allen Reden hörte man die Furcht vor Bombenangriffen. Man wies uns den Weg zu einem Flüchtlingslager. Dort lagen Frauen, Kinder, alte Männer auf verwanztem und verlaustem Stroh und bekamen eine kärgliche Mittagssuppe, die ganz unserer in Ravensbrück glich. Zeitungen gab es nicht mehr, aber Gerüchte über Gerüchte. Man räumte in überstürztem Tempo alle Lazarette der Stadt Güstrow , und aus einem Gespräch mit Soldaten, die sich von der Oder abgesetzt" hatten, wurde mir klar, daß die russische Offensive begonnen haben mußte. Nachrichten über das schnelle Herannahen der Russen häuften sich und ich wurde zu neuer Aktivität gezwungen. Ich zeichnete sorgfältig eine geliehene Landkarte ab, und am Morgen des dritten Tages brachen wir trotz Helenes Protest auf und verließen die Stadt in westlicher Richtung. Mein Plan war, so schnell es nur eben ging, die amerikanische Front zu erreichen. Auf der Landstraße lagen die Gerippe ausgebrannter Panzer und Auto­busse. Flüchtlinge zu Fuß, auf Bauernwagen und in eleganten Autos, auf deren Dächern aller mögliche Hausrat festgebunden war, strömten west­wärts. Jede halbe Stunde mußten wir uns niedersetzen, denn Helene ver­sagten die Kräfte. Nach zehn Kilometern kam ein Dorf. Helene konnte nicht mehr laufen und sie ging fest entschlossen in das erste Bauernhaus, eine Unterkunft zu erbitten. Es war voll mit Flüchtlingen und für uns fand sich lediglich ein Platz in der Scheune. Wir lagen abends im Heu, und ich sah durch das baufällige Dach der Scheune den Sternenhimmel, genau so wie vor langen Jahren in Burma, und immer wieder, wie in Ravensbrück , suchte ich nach meinem Stern, und er nahm auch dieses Mal meine Bitten entgegen.

Am nächsten Morgen wollten wir weiterwandern, aber die freund­liche Bauersfrau fragte uns, was wir denn für merkwürdige Frauen seien? Wir hätten doch ganz andere Gesichter als die übrigen Flücht­linge. Als sie aber Konzentrationslager und noch dazu Ravensbrück ver­nahm, mußten wir sofort in die gute Stube" kommen, und aufgeregt erkundigte sie sich, ob wir auch Bibelforscher aus Ravensbrück kannten. Mir fiel ein, daß es aus Güstrow ein Klärchen Mau gegeben hatte und ich sagte es ihr. Da fand ihre Freude kein Ende, sie bewirtete uns mit Kartoffeln und Specksauce, räumte uns gleich ein Zimmer ein und bat, ja noch etwas bei ihr zu bleiben, damit wir zu Kräften kämen. Sie und ihr Mann gehörten der Internationalen Vereinigung der Bibelforscher an.

Es war sehr verlockend, sich noch ein wenig zu erholen, und auf Helenes und Emmis dringlichen Wunsch hin stimmte ich zu. Durch den Garten des Bauernhofes floß ein klarer Bach hinab zu einem kleinen See. Wir wuschen in ihm unsere Wäsche. Es war ein sonniger, heiterer Frühlingstag. Jenseits des Baches leuchtete eine Wiese, ich lief über die Brücke. Es war eine richtige Wiese mit Blumen und Schmetterlingen.

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