nahen der Front sämtliche Betriebe des ,, Industriehofes" in die Luft ge­sprengt würden, und die bange Vorstellung, man könne zum Schluß auch alle eingesperrten Frauen mit umbringen, drängte sich uns auf.

Da kam der Befehl, die Baracke 4 des ,, Industriehofes", in der wir wohnten, sei sofort zu räumen. Sie lag in einem schmalen Gang zwischen zwei Betrieben, und die offizielle Erklärung zu dieser Maßnahme lautete, ,, die Häftlinge dieses Blocks seien durch dessen Lage neben zwei Be­trieben bei eventuellen Bombenangriffen gefährdet". In aller Eile wurde eine Baracke des angrenzenden Männerlagers geräumt und dem ,, Indu­striehof" einverleibt. Dorthin zogen wir, und es war mehr als komisch, daẞ trotz des sichtbar nahen Endes die Häftlinge leidenschaftlich um Plätze und alle möglichen Vorteile bei der neuen Unterbringung kämpften.

Am 18. April 1945 bestellte Oberscharführer Graf Ilse Heckster und mich in die Schneiderei. Wir machten uns unwillig ob der Störung unseres nun schon selbstverständlich gewordenen freien, ungebundenen Lager­lebens auf den Weg, und im Büro empfing uns Graf mit den Worten: ,, Teilen Sie den Häftlingen aller Schneidereien mit, daß ab Montag, den 23. April, alle Betriebe wieder voll arbeiten werden." Das brachte er in dem gewohnten Befehlston vor, so daß wir beide einen Moment betreten schwiegen. Dann meinte Ilse Heckster mit leichtem Spott: Herr Graf, da werden wir wohl mit Fußbetrieb arbeiten? Oder wie?" Graf runzelte gereizt die Stirn, antwortete aber doch: ,, Nein, bis zum Montag hat Ravensbrück wieder Starkstrom." Da er sich auf eine Antwort einließ, hatten wir bereits gewonnen, und ich fragte weiter: ,, An welches Strom­netz werden wir denn angeschlossen?" ,, An ein nördliches", erwiderte er sicher. Ilse Heckster kribbelte es vor Lust auf mehr interessante Auf­schlüsse, und sie ermunterte Graf, indem sie ihre tiefe Befriedigung ausdrückte, daß wir nun endlich wieder an die Arbeit kämen. Graf be­fand sich in einer derart tiefen moralischen Depression, daß er ihren teilnahmsvollen Worten hingerissen lauschte. Mit veränderter, ganz ver­traulicher, geradezu persönlicher Stimme wandte er sich an sagte: Eigentlich dürfte ich ja nicht mit Ihnen darüber sprechen, aber ich vertraue auf Ihre Diskretion. Sie müssen nämlich wissen, daß am 20. April, dem Geburtstag des Führers, die neue deutsche Wunderwaffe in Anwendung kommt. Und sie wird mit einem Schlag die Lage auf allen Kriegsschauplätzen zugunsten Deutschlands verändern. Wir werden in Kürze wieder vor Warschau sein und den Westen Deutschlands gesäubert haben!" Ilse und ich hauchten wie aus einem Munde: ,, Das ist aber sehr interessant, Herr Graf." Zusammen gingen wir von dannen, und als wir außer Sehweite waren, tippten wir uns leicht gegen die Stirn und meinten: ,, Armer Irrer!"

uns und

Am 21. April kam unsere Blockälteste Gilli mit einem Zettel aus der Schreibstube und rief eine ganze Anzahl deutscher und tschechischer

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