die Russen Ravensbrück vor den Amerikanern oder Engländern er­reichen? Eine Denunziation der Stalinistinnen war mir gewiß. Es gab nur eine Rettung, vorher aus dem Lager zu fliehen. Einige Polinnen kannten mein Schicksal und auch die Gefahr, in der ich schwebte. Sie teilten mir mit, daß ich im entscheidenden Moment auf ihre Hilfe rechnen könne, daß sie bereits feste Pläne hätten.

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Inka kam strahlend in die Schreibstube gesprungen, und ohne viel zu fragen, nahm sie mich bei der Hand, sprudelte irgend etwas wie: ,, Das mußt du gesehen haben!" Und zog mich mit hinaus auf die Straße durchs Tor zum alten Lager. Ein unausdenkliches Wunder! Über die Lager­straße fuhren langsam und gravitätisch mehrere große, schneeweiße Autobusse des schwedischen Roten Kreuzes. Vor Staunen und Freude fehlten uns die Worte. Die Autobusse waren beladen mit Paketen, die bei den Effektenbaracken auf einen großen Haufen abgeladen wurden. Wir hatten nur eine Deutung: Der Krieg ist aus! Hitler besiegt! Das Internationale Rote Kreuz hat das Lager übernommen! Aber die Auto­busse verließen wieder das Lager, und in der folgenden Nacht kam SS mit zwei Lastautos und stahl einen Teil der Pakete. Und doch lagen da so viele, daß jeder Häftling bedacht wurde. Die Lagerobrigkeit er­klärte, eine Kommission von Häftlingen werde diese Pakete verteilen, es würde alles darin ausgegeben, nur nicht die Zigaretten. Wir trauten unseren Ohren nicht! Dann traten die Frauen einer Baracke nach der anderen an und jede bekam ein Paket. Manche konnten vor Gier nicht bis zu ihrem Block kommen, sie setzten sich gleich am Straßenrand nieder und begannen von den Schätzen zu essen. Sie zeigten eine der anderen diese Herrlichkeiten in den Büchsen, das ganze Lager wurde von einer bacchantischen Freude erfaßt. Die Lagerordnung war über den Haufen geworfen. Zwischen den Baracken im Industriehof" schürten sich die Frauen im Sand kleine Feuer und wärmten die leckeren Konserven. In den Krankenblocks lag auf jedem Bett ein Paket, und die Totkranken blickten mit verklärten Gesichtern auf die Herrlichkeiten, doch für un­zählige kamen sie zu spät, und bei vielen beschleunigten sie das Ende.

Das nächste unglaubliche Ereignis war der Abtransport von drei­hundert Französinnen durch das Internationale Rote Kreuz . Eine Sprecherin der französischen Häftlinge erklärte der SS, daß sie sich weigerten zu gehen, wenn nicht sofort alle Französinnen aus dem Jugendlager geholt würden, denn diese hätten den Vorrang. Und die SS gab nach. So kamen viele der zum Tode Bestimmten mit dem ersten Transport des Internationalen Roten Kreuzes in die Freiheit.

Schon sprach man von einem nächsten Franzosentransport. Couri und Danielle rüsteten sich. Ich schrieb durch Stunden alle wichtigen

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