Ende Januar 1945 erfuhren wir, daß Gestapomann Ramdor durch die SS verhaftet worden sei. Entweder hatte der Kommandant Suhren ihn ,, hochgehen" lassen, weil er sich durch die Gestapo nicht länger in die Angelegenheiten des KZ hineinregieren lassen wollte, oder weil er Ramdors Kontrolle seiner eigenen Korruptionsgeschichten wegen fürchtete. Wie dem auch gewesen sein mag, wir waren wie von einem Alpdruck befreit, und ein befriedigtes Aufatmen ging durch das Lager. In der Zukunft sollte ich Ramdor noch einmal begegnen. Fast einen Monat nach meiner Freilassung aus dem Lager, am 19. Mai 1945, stand ich in der Schlange vor einem Brotladen in Boizenburg an der Elbe. Zu­fällig blickte ich auf und bemerkte den Rücken eines vorübergehenden Mannes in Zivilkleidung, ohne Mütze, mit einem Einkaufsnetz in der Hand. Das Blut schoß mir zum Herzen, als ich über dem Rockkragen den Nacken und hinterkopflosen Schädel Ramdors zu erkennen meinte. Was sich dann ereignete, geschah ohne Überlegung, ich handelte unter einem Zwang. Ich folgte dem langsam gehenden Mann. Er bog in die Haupt­straße ein. Ich suchte erregt nach einem amerikanischen Soldaten, denn ich konnte mich doch diesem Menschen, den ich für Ramdor hielt, nicht nähern, ihn am Arm packen und verhaften, ohne erwarten zu müssen, daß er mich augenblicklich zu Boden schlüge. Die Straße schien nicht enden zu wollen. Da bog der Mann nach rechts in eine Seitenstraße ein, es hatte den Anschein, als wolle er in einem Haus verschwinden. Links war hinter Stacheldrahtverhau das Hafenamt von Boizenburg , und auf dem Hof patrouillierte ein amerikanischer Posten. Ich übersprang den Stacheldraht, stürzte auf den Posten zu, wies mit der Hand in die Rich­tung, wo Ramdor stand und brüllte etwas wie: ,, Dort ist ein Gestapo­mann, verhaften Sie ihn! Ich komme aus einem Konzentrationslager!" Der Soldat legte sein Gewehr auf die Erde und lief hinter dem fliehen­den Ramdor her. Zur gleichen Zeit sah ich vier andere Soldaten rennen. Nach einer langen Weile vielleicht waren es nur Minuten kamen

-

-

die fünf, zwischen sich einen Zivilisten, über den Platz auf mich zu. Als ich das Gesicht des Verhafteten sah, entsetzte ich mich. Es schien gar nicht Ramdor zu sein. Auf meine Frage: ,, Sind Sie Ramdor?" ant­wortete der Mann: ,, Jawohl!"

-

*

Das Lager Auschwitz wurde beim Herannahen der russischen Front evakuiert und alle Häftlinge nach dem Westen getrieben. Als die Tausende Frauen Ravensbrück erreichten, waren ihre Gesichter vor Hunger und Durst vertiert. Sie schrien und bettelten um Wasser. Tage­lang hatten sie keinen Tropfen erhalten. Die Küchenhäftlinge erbaten die Erlaubnis, den Dürstenden Kaffee zu bringen. Es geschah, aber Hunderte stürzten sich über die Kübel, schlugen sich gegenseitig zu Boden, und der Kaffee floß auf die Erde. Erst die prügelnde Lagerpolizei und ein

268