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Augenblick daran, daß sie, der die Zustände in der Schneiderei bekannt waren, uns helfen würde. Nach zwei Tagen rief mich Graf mit erhobener Stimme: ,, Hier, sehen Sie einmal die Schweinerei an! Fünfundzwanzig Häftlinge ohne Innendienst- oder Bettkarten! Bringen Sie sofort die Weiber her!" In meinem Entsetzen fand ich den Mut der Verzweiflung: Herr Graf, das Revier muß sich geirrt haben, wahrscheinlich ist bei der Überarbeit deren Kartei in Unordnung. Lassen Sie mich sofort mit der Liste ins Revier laufen und die Sache nachkontrollieren!" Er schrie noch etwas von: ,, Hier steht ja Dr. Treites Unterschrift, dann muß es doch stimmen!" Aber schon war ich mit dem Zettel auf und davon, um Emmi Görlich zu erwischen. Als ich sie zur Rede stellte, antwortete sie achselzuckend:„ Ich sehe nicht ein, weshalb ich Euch decken soll, ich muẞ ja auch arbeiten!" Von den fünfundzwanzig konnte ich fünfzehn schützen, da sie anständige Blockälteste hatten, die sich bereit erklärten, zu sagen, sie wären erst jetzt wieder gesund geworden. Aber die übrigen zehn wurden von Graf furchtbar geprügelt und erhielten eine Meldung. Merkwürdigerweise kam dieses Vieh nicht auf den Gedanken, daß alle mit meinem Einverständnis fortgeblieben waren.
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Im Herbst 1944 bekam ich die echte Lagerfurunkulose, die beinahe tödlich endete. Den Sanitätsdienst des ,, Industrieho fes" versah eine junge tschechische Medizinstudentin, und da ich sie als eine gläubige Kommunistin kannte, ging ich erst, durch Schmerzen getrieben, nach langer Überwindung zu ihr, um mich verbinden zu lassen. Wir hatten bis dahin nie ein Wort gewechselt. Für Inka war ich eine Trotzkistin das hatte man ihr gesagt also das Verachtungswürdigste unter der Sonne.
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Ich stand in langer Schlange mit den anderen Kranken im engen Gang zwischen den Kojenreihen, wo Inka auf einem Holzschemel ihren Verbandsstoff, Salben und Desinfektionsmittel ausbreitete und nun eine nach der anderen verarztete. Sie war zu bewundern mit ihrem unermüdlichen Eifer und der nie versagenden Freundlichkeit. Sie strahlte so viel gesundes Leben und Sicherheit aus, daß es einem bei ihrem Anblick ganz wohl werden konnte. Die Furunkel waren hartnäckig und die Besuche bei Inka regelmäßig. Einmal begann sie, halb im Scherz, mich politisch zu attackieren. Meine Antwort weiß ich nicht mehr. Dann aber wünschte sie lachend ein Gespräch und bat, einige aufklärende Fragen stellen zu dürfen. Wir gingen am Abend zwischen den Baracken hin und her, und sie hörte nun aus meinem Mund die Geschichte der Trotzkistin". Inka hatte trotz ihrer Jugend und kommunistischen Gläubigkeit den Mut zur Objektivität. Sie wagte, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie nahm nicht hin, was man ihr als unumstößliche Wahrheit und Glaubenssatz aufoktroyieren wollte. Vielleicht waren es nur die besonderen Umstände
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