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wurden die Häftlinge des Industriehofes untergebracht, und man richtete für alle viertausend in der Mitte des Industriehofgeländes einen gemeinsamen Toiletten- und Waschraum. In Kürze waren durch Wassermangel und schlechtes Funktionieren der Anlagen die Toiletten unbrauchbar und die Tausende Frauen gezwungen, ihre Notdurft im Freien zu verrichten oder die primitiven Abortgruben zu benutzen. Das mutete mich ganz ,, sibirisch" an. Ende 1944 landete Ravensbrück so langsam auf dem Niveau von Karaganda .
Lille , Anicka und ich wohnten im ,, Industriehof" in einer Koje in der zweiten Etage am Fenster. Man konnte nicht aufrecht sitzen, sondern kauerte gebückt in seiner Höhle. Dort saßen wir und schliefen, plauderten am Abend und verbrachten unsere freien Tage, wenn wir nicht auf Besuch ins ,, alte" Lager gingen. Wir drei gehörten zusammen, bildeten eine Familie und teilten unsere Freuden und Sorgen. Unsere gemeinsamen Freunde empfingen wir am Abend oder Sonntags in der ,, Koje". Da saßen dann die Norwegerinnen Margarete und Birgit, die Deutschen Lotte und Maria, Inka, die Tschechin, und Couri und Danielle, unsere französischen Kameradinnen. Es war eine Vielzahl von Nationalitäten und ein Gewirr von Sprachen.
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In der Schneiderei I avancierte ich eines Tages, ohne jegliche Fürsprache Maria Wiedmeiers, zur Arbeit in der Schreibstube. Ich teilte das Büro mit der Holländerin Ilse Heckster und hatte eine Kartei über alle in der Schneiderei arbeitenden Häftlinge zu führen. Die Erkrankten mit Innendienst und Bettkarten mußten von den Blockältesten gemeldet und von mir in die Kartothek eingetragen werden. Das war eine leichte Arbeit, aber wie sich in Kürze herausstellte, nicht ohne Gefahren, und beinahe wäre ich erneut im Bunker gelandet. Mir waren aus eigener Erfahrung die Qualen der Arbeit am Band" nur zu gut vertraut, und bei elfstündiger Arbeitszeit wuchs die Zahl der erlaubten" Kranken von Woche zu Woche. Aber wieviele hatten nicht das Glück, Fieber zu haben und eine Innendienstkarte zu bekommen. Wenn dann nach der Arbeitszeit eine zu mir kam und bettelte, ich solle sie doch unter die Kranken schreiben, tat ich das. So hatte ich nach geraumer Zeit gegen fünfundzwanzig illegale Kranke. Eines Tages erklärte mir Oberscharführer Graf, mein Vorgesetzter, der SS - Arzt Treite verlange sofort eine Liste aller Kranken der Schneidereien, um eine Kontrolle durchzuführen. Mir brach der Angstschweiß aus. In aller Eile wurde eine Liste hergestellt, und für die Kranken ohne ,, Innendienstkarten" und mich gab es nur eine Rettung, nämlich Emmi Görlich, die Sekretärin Treites, in meine Notlage einzuweihen und ihre Hilfe zu erbitten. Ich lief mit der Liste ins Krankenrevier zu Emmi, einem politischen Häftling, die diese Kontrolle vornahm. Mit sichtlichem Unwillen nahm sie meine dringliche Aufforderung entgegen, die Liste zu fälschen, gab dann aber ein vages Versprechen:„ Ich werde sehen, was sich machen läßt!" Ich zweifelte keinen
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