daß Hitlers Stern im Sinken begriffen war, aber viele von uns waren am Ende ihrer Kräfte. Sie bedurften der Rettung in Wochen, in den nächsten Tagen.

In den ersten Jahren Ravensbrück holte der Fuhrunternehmer Wendland aus Fürstenberg die Toten des Konzentrationslagers in seinem ländlichen Leichenwagen ab. Jede Gestorbene lag in einem Sarg, mit Papierhemd bekleidet, das wie eine Tortenunterlage mit Papierspitzen verziert war. Immer mehr Häftlinge starben, und Herrn Wendlands Ge­schäft blühte; er kaufte sich ein Leichenauto. Aber mit dem Bau des ersten Krematoriums übernahm die SS die Toten in eigene Regie. Wozu Särge? Es genügten Kisten mit flachem Deckel. Wozu brauchte ein toter Häftling bei diesem Platzmangel einen eigenen Sarg? Sie waren ja so mager, da hatten zwei in einer Kiste Platz! Früher trugen vier Revier­arbeiterinnen die Toten den letzten Weg durchs Lagertor hinaus, jetzt- wo täglich über 50 starben lud man fünf oder mehr Kisten auf einen Plattenwagen, und die ,, Leichenkolonne" fuhr sie zum Krematorium. In diesem Winter verschlechterte sich Milenas Gesundheitszustand bedrohlich. Ihre Widerstandskraft war gebrochen. Sie sprach oft vom Sterben. Ich werde das Lager nicht überleben, nie mehr nach Prag kommen. Wenn mich doch wenigstens Herr Wendland noch geholt hätte, der sah so gutmütig aus in seiner bäuerlichen Joppe."

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Mit dem Aufwand ihrer letzten Kräfte schleppte sie sich Tag um Tag zur Arbeit. Die Angst vor Injektionen und Krankentransport hielt sie aufrecht. Sie hatte immer Fieber. Der neue SS - Arzt in Ravensbrück untersuchte sie und stellte fest, daß eine Niere vereitert sei. Er sagte, es gäbe nur eine Rettung, die Operation. Und Milena entschied sich zu diesem letzten Versuch, am Leben zu bleiben, das sie liebte wie jedes Geschöpf.

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Sie starb am 17. Mai 1944. Da hatte das Leben für mich den Sinn verloren. Als die Leichenkolonne Milenas Sarg auf den Wagen lud, bat ich, mitgehen zu dürfen. Es war ein Frühlingstag mit tröpfelndem, warmem Regen, und der Posten beim Lagertor mochte glauben, daß es Regen sei, was da über meine Backen lief. Im Schilf, am Ufer des Fürstenberger Sees, pfiff traurig ein Wasservogel, und wir luden die Kisten mit den Toten ab und trugen sie zum Krematorium. Zwei krimi­nelle Männerhäftlinge mit Gesichtern wie von Henkersknechten klappten den Deckel hoch, und als wir die tote Milena heraushoben und meine Kraft versagte, meinte der eine: Kannst schon richtig zupacken, die spürt sowieso nichts mehr!""

Am 10. Juni 1944 erfuhr das Lager die geglückte Invasion. Da jubelten alle, ich aber konnte die Freude nicht teilen. Ich schlich durch die Tage und weinte in den Nächten. Wozu weiterleben, wenn Milena sterben mußte?! Meine Vorstellung von Freiheit war untrennbar mit ihr

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