lief in die Zuschneiderei und verhandelte eifrig mit den Aufseherinnen oder SS- Männern über irgendwelche Fragen, die die Schnitte der Uni­formen betrafen. Als ich in der Schneiderei arbeitete, ergab es sich, daß wir miteinander ins Gespräch kamen. Die ersten paar Male ver­mutete ich, es sei ein Zufall, daß Olga nur von Fragen und Komplika­tionen ihrer Tätigkeit am ,, Einlegetisch" zu erzählen wußte. Aber nein, durch anderthalb Jahre gab es für Olga Körner nur einen Gesprächsstoff, nur ein Thema: die Zuschnitte, die schlecht aneinanderpaßten, die ver­wechselten Farben der Tarnstoffe, die nachlässige Arbeit der Zu­schneiderei, die lobenden oder abfälligen Äußerungen dieses oder jenes SS- Mannes und ihre eigene rastlose Mühe um das gute Funktionieren der ihr anvertrauten Arbeit in der SS - Schneiderei. Auch Olga Körner ging restlos auf in ihren Pflichten um die Herstellung von SS- Uniformen. An einer Knopfannähmaschine saß Rema, eine junge Ukrainerin. Es war im Sommer 1944, ich arbeitete bereits in der Schreibstube der Schneiderei, als man die Häftlinge des ,, Industriehofes" durch Prämien und Lebensmittelzulagen, die die SS aus Roten- Kreuz- Paketen stahl, zu höheren Arbeitsleistungen antreiben wollte. Oberscharführer Graf er­zählte lobend von der Ukrainerin Rema, deren Handfertigkeit er als ein bisher nicht gesehenes Wunder schilderte. Rema hatte die Fähigkeit, gleichzeitig mit beiden Händen zwei verschiedene Arbeitsgänge zu machen und übererfüllte ihr Pensum um 100 Prozent. Die SS - Leute umstanden sie kopfschüttelnd und begeistert. Graf beauftragte mich, Rema eine Sonderzulage an Lebensmitteln als Belohnung zu überbringen. Als ich ihr die Sachen gab, sagte ich auf russisch: ,, Daß du dich nicht schämst, ein doppeltes Pensum für die SS zu machen! Du zwingst doch dadurch die anderen Knopfannäher, auch schneller zu arbeiten!" Lächelnd und naiv meinte Rema: ,, Ich bin doch auch fleißiger als die anderen und kriege dafür eine Zulage!"

*

Meiner Arbeit an der Nähmaschine wurde durch Maria Wiedmeiers Fürsprache ein Ende gesetzt. Sie schlug mich Oberscharführer Graf zur Faden- und Knopfausgabe vor. Die Beweggründe zu dieser Protektion blieben mir immer unverständlich. Vielleicht war das eine vorbeugende Maßnahme und entsprang ihrer Unsicherheit, ob nicht etwa irgendwann nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager und der Machtergrei­fung durch die Kommunisten, an der sie nie zweifelte, die politische Linie Heinz Neumanns in den Jahren 1931/32 eine Rechtfertigung er­fahren würde. Sie gab übrigens den Russinnen und Ukrainerinnen der ,, Stoffkolonne" als ihre Adresse in der Freiheit an: ,, Maria Wiedmeier, Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands ".

Der Winter 1943/44 war wohl die schrecklichste Zeit in Ravensbrück . Wir kannten zwar die Nachrichten vom Kriegsschauplatz, wir wußten,

260