Nirgends in Ravensbrück wurden die nächtlichen Fliegeralarme mit einer solchen Begeisterung begrüßt wie in der Schneiderei. Wenn der Ruf: Fliegeralarm! Licht aus!" ertönte, stürzte jeder Häftling in Eile zu einem Platz, um ausruhen zu können. Meist stürmte Anicka mit dem Handwerkskasten unterm Arm herbei, packte meine Hand und zog mich im Dunkeln in den Raum mit den aufgestapelten SS- Uniformen, die uns als Schlafstatt dienten. Während die Bombengeschwader über das Lager brausten, daß die Fensterscheiben der Schneiderei nur so klirrten, lagen wir in erschöpftem Schlaf, bis die Töne der Entwarnung uns an die Maschinen zurückzwangen. Je häufiger und länger die Fliegeralarme währten, um so gereizter und bestialischer wurde das Prügelregime in der Schneiderei. Es gab kaum ein Band, an dem nicht geschlagen wurde. Die Aufseherin Lange, die ihren Namen zu Recht trug, ein grobschläch­tiges, rohes Weib mit unnatürlich großen Händen und Füßen, tat es den männlichen Kollegen mit Eifer nach. Aber nicht so der SS- Mann Seipel aus Ungarn , ein großer, magerer, ein wenig gebeugter Mann mit dunklen, schwermütigen Augen. Auch ihm unterstand ein Arbeitsband. Der sprach nicht einmal ein lautes Wort, der ging von einer nähenden Frau zur anderen, und dann konnte man beobachten, wie er eine aufzustehen bat, sich an die Maschine setzte und ihr geduldig zeigte, wie man zu nähen habe. Einmal führten die Frauen ein Gespräch mit ihm, es handelte sich ums Schlagen. Da meinte Seipel: ,, Nie im Leben werde ich mich so be­schmutzen, die Hand gegen eine Frau zu erheben!" Selbstverständlich verbreitete sich sein Ruf über die ganze Schneiderei, und später wurde ihm eine Huldigung zuteil, die ich nicht vergessen kann. Seipel, der Tag für Tag seine Ungeeignetheit für den Beruf eines SS- Aufsehers im KZ bewies, wurde nach einiger Zeit zur Ausbildung für die Front einge­zogen. Er ging, und die Frauen ließen traurig die Köpfe hängen. Es mochten wohl vierzehn Tage vergangen sein, als eines Tages, wahrschein­lich, um vor dem Abmarsch ins Feld noch irgendeine Bescheinigung ab­zuholen, Seipel die Schneiderei I betrat. Im Nu verstummten die Maschinen aller Frauen, die ihn erblickt hatten, und durch die Halle schallte ihm der begeisterte Ruf entgegen: Herr Seipel kommt zurück, Herr Seipel!" Der lächelte grüßend und schüttelte verneinend den Kopf.

Verantwortlich für die Produktion und den geordneten Arbeitsgang der Schneiderei I, II und III war SS- Oberscharführer Graf. Er unterschied sich von den Prügelhelden Binder, Rauxloh und Jürgeleit nur dadurch, daß er klüger war und seine Opfer nicht vor den Augen aller, sondern im Dienstzimmer mit dem Koppelschloß des Militärgurts zusammenschlug oder gegen die Wand stieß. Um eine Sabotage in der Schneiderei zu ver­hindern, besetzte die SS die Arbeitsbänder bunt durcheinander mit Politischen aller Nationen, mit Kriminellen, Zigeunern und Asozialen.

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