Ich konnte nicht nähen, die elektrische Maschine lief mir davon. Trotzdem meine Arbeit nur im Zusammennähen von Bändern bestand, schaffte ich das Pensum nicht. Ununterbrochen brach die Nadel und riẞ der Faden. Wäre ich ein armer, unbekannter„ Zugang" gewesen, was hätte ich erdulden müssen! Vom SS- Mann blutig geschlagen, von der Aufseherin geohrfeigt und von einem kriminellen oder asozialen Anweisungshäftling schikaniert. Als ,, alte Ravensbrückerin" fanden sich gleich Freunde. Der tschechische Anweisungshäftling Nelly sah meine Not und nähte heimlich an einer freien Maschine einen großen Berg von Bändern und warf sie auf meinen Platz. Das Pensum war gerettet. Die kleine braunäugige Anicka aus der Reparaturwerkstätte, die unermüdlich von einer Maschine zur anderen lief, um die Schäden zu heilen und die drohenden Strafen abzuwenden, steckte mir heimlich Nadeln zu, so daß ich die Aufseherin nicht ständig darum bitten und jedesmal eine Ohrfeige erwarten mußte.
Eine Nachtschicht in Schneiderei I. Die Fenster mußten hermetisch geschlossen bleiben, da wegen der Fliegerangriffe strenge Verdunklung angeordnet war. Schon nach einigen Stunden war die Luft in der Fabrikhalle durch das Nähen von Uniform- und Tarnstoffen mit dickem Staub erfüllt und kaum noch einzuatmen. Tief über die Maschinen gebückt arbeiteten die Frauen in rasendem Tempo.
Neben mir saß eine junge Ukrainerin mit durchsichtigem Gesicht und kindlichem Körper. Ich sah, wie sie beim Nähen den Mund bewegte, sie sang vor sich hin, in den Lärm der Motore hinein. Ich beugte mich zu ihr, sie lächelte und sang weiter. Es war ein Lied aus einem russischen Film, ich begleitete sie mitsingend ein kurzes Stück, und unsere Bekanntschaft begann. Sie half mir beim Einsetzen der Maschinennadeln und beim Einfädeln des Garns.
Die gefürchtetste Bestie der Schneiderei I war Unterscharführer Binder. Noch vor Mitternacht ging er meist auf Jagd aus. Plötzlich übertönte ein viehisches Gebrüll den ratternden Lärm. Einen Augenblick stoppten die Maschinen, und alle Frauen blickten entsetzt auf. Binder stand vor einem Opfer, das nicht schnell genug arbeitete oder eine schiefe Naht genäht hatte und schrie:„ Höö! Höö!" Dabei lief sein Gesicht rot an, die Augen quollen vor, er packte die Frau bei den Haaren, stieß sie mit dem Kopf auf die Nähmaschine, riß sie wieder in die Höhe und schlug so lange auf sie ein, bis sie sich am Boden wälzte und ihr das Blut aus der Nase drang. Binder mußte Blut sehen.
Um Mitternacht gab es eine halbstündige Pause, wenn das Band nicht strafweise durcharbeiten mußte. Jeder Häftling erhielt einen Becher mit Kaffee, und manche aẞen dazu ihr Stück Brot. Viele verbrachten die elf Stunden der Nachtschicht ohne einen Bissen, sie hatten die Ration schon am Tage vorher verzehrt.
17 Buber: Gefangene.
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