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Herrenrasse und hegte keine Zweifel an der menschlichen Unantastbar­keit Adolf Hitlers und Heinrich Himmlers und war überzeugt, daß beide keine Ahnung von der korrupten, sittlich und moralisch verkommenen Schicht der SS- Konzentrationslagerleitungen hätten. Ebenso wie sie an den Nationalsozialismus glaubte, schien ihr auch der Sieg der deutschen Armee gewiß. Hingegen lehnte sie als unmenschlich und politisch falsch die Verschleppung der Millionen Fremdarbeiter" nach Deutschland ab. Durch unsere immer häufiger werdenden Unterhaltungen erschütterte ich in kurzer Zeit nicht nur ihren Glauben an den deutschen Sieg, son­dern stürzte sie in immer ausweglosere Zweifel, indem ich sie zwang, das System der Konzentrationslager mit den Augen eines Häftlings zu sehen. Ich appellierte an ihre Muttergefühle und erzählte in allen Einzelheiten von den fortgesetzten Morden an Neugeborenen, dem Töten durch Injektionen und machte ihr klar, daß alles das keine Entartung der SS - Führer oder-ärzte sei, sondern die notwendige Konsequenz des Regimes. Wie weit ich die Langefeld überzeugen konnte, ist schwer zu sagen, aber es genügte schon, daß sie, eine Oberaufseherin im KZ, mich anhörte.

Im Winter 1942 wurde ein großer Transport von russischen Frauen aus dem Sanitätsstab der Krim - Armee angekündigt. Sie waren fast alle Krankenschwestern, Feldschere oder Ärztinnen und waren in Sewastopol in Kriegsgefangenschaft geraten. Die gesamte Lagerobrigkeit wurde nervös, als es hieß, die ,, Frauen der Roten Armee " kommen. Eine Baracke wurde geräumt und mit Stacheldraht umgeben. Als die russischen Frauen am Bahnhof aus den Güterzügen stiegen, empfingen sie einige Aufsehe­rinnen mit Fußtritten und Backpfeifen. Die ,, Frauen der Roten Armee " trugen Soldatenuniform und bewegten sich streng militärisch und diszi­pliniert. Sie marschierten in geschlossenen Kolonnen ins Konzentrations­lager ein, und nach dem Kommando ihrer weiblichen Vorgesetzten vollzog sich die Aufnahmeprozedur in absolutem Schweigen. Kommandant und Schutzhaftlagerführer gingen in provokatorischer Absicht in das Brause­bad, wo Hunderte nackter Frauen standen. Die Langefeld kam erregt ins Büro gestürzt, mit einem Schwall von Beschimpfungen über die Scham­losigkeit der SS und lobenden Aussprüchen, die der Haltung dieser rus­sischen Zugänge galten und in denen ein Unterton von Neid und Angst schwang. Auch in den Baracken hielten die ,, Frauen der Roten Armee " am Anfang ihren militärischen Lebensstil aufrecht, was das Herz der Langefeld höher schlagen ließ. Die Baracke der ,, Roten Armee " wurde durch Lagerpolizei unter Leitung von Käthe Knoll meiner Vor­gängerin bei den Bibelforschern

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streng bewacht.

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Eine bezeichnende Wirkung hatte die Ankunft der Frauen der Roten Armee " auf viele russische und ukrainische Häftlinge in Ravens­ brück . Es verging kaum ein Tag, an dem nicht Käthe Knoll in Ausübung

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