Paleckova den russischen Frauen mit hochgespannten Illusionen begegnet und hatte bei ihnen alle Tugenden der sozialistischen Erziehung erwartet, sie für aufrechte Kämpferinnen und Bewunderer der russischen bolsche­wistischen Partei gehalten. Und da kamen sie nun, primitiv, politische Analphabeten, und viele äußerten unverhohlen ihre Abneigung gegen das Stalinsche Regime. Wohl gleich am ersten Tage scheint die Paleckova eine tiefgehende Erschütterung erlebt zu haben. Sie wurde schweigsam. Trotzdem gab sie ihr neues Amt nicht sofort wieder auf. Es kam mir zu Ohren, daß sie den Frauen im Block der ,, alten" Politischen immer er­klärte, daß nicht alle russischen Frauen so seien wie diese in Ravens­ brück eingelieferten Häftlinge. Nicht lange danach hörte ich, daß bei der Paleckova Zeichen von Geistesverwirrung zu bemerken waren. Als man sich im Block der ,, alten" Politischen über ihren Zustand klar wurde, versuchte man, sie unbedingt vor einer Einlieferung ins Krankenrevier zu schützen, denn das bedeutete den sicheren Tod. Trotzdem gelang es den Häftlingen nicht, sie zu retten. Bei dem Versuch, ihr heimlich eine beruhigende Injektion zu machen, verfiel sie in Tobsucht. Der SS - Arzt ließ sie in den Zellenbau bringen, und die dort als Kalfaktoren arbeiten­den Bibelforscherinnen erzählten, daß ihr Zustand hoffnungslos sei, daß sie jede Annahme von Essen verweigere und mit verzücktem Gesicht an der Wand stehe und rufe: ,, Stalin , ich liebe dich!" Nach zwei Wochen holten Häftlinge des Krankenreviers die Leiche der Paleckova, die zu einem Skelett abgemagert war, aus der Zelle.

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Anfang 1942 wurde ein großer Transport von ungefähr tausend Frauen nach Auschwitz geschickt. Damals hörten wir das erste Mal von diesem Konzentrationslager, und keiner hatte eine Ahnung, was der Name bedeutete. Viele Häftlinge meldeten sich freiwillig, darunter auch ,, alte" Politische. Mit dem Transport ging die Oberaufseherin Langefeld und die beiden beliebten und tüchtigen Lagerläuferinnen Bartel Teege und Liesl Maurer.

Mandel hieß die neue Oberaufseherin, und sie führte ein neues Regime in Ravensbrück ein. Der Abendzählappell wurde bedeutend ver­längert. Das Austeilen von Backpfeifen und Fußtritten wurde gang und gäbe.

Um diese Zeit waren auf dem Bibelforscherblock neue, heftige Debatten im Gange. Diesmal stand auf der Tagesordnung die Verweige­rung von Kriegsarbeit. Als erste legte die Kolonne ,, Angorazucht" die Arbeit nieder. Die Bibelforscher erklärten, festgestellt zu haben, daß die Wolle der Kaninchen für Heereszwecke verwandt würde, und es sei nicht mit ihrem Glauben vereinbar, weiterhin in dieser Kolonne zu bleiben. Grundsätzlich seien sie aber bereit zu arbeiten. Noch am gleichen Tage

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