psychose. Dr. Sonntag rächte sich nicht schlecht für seine Blamage. Man jagte durch die Körper der Gelähmten elektrischen Strom, und sie sprangen nur so davon. Als die übrigen Kranken das hörten, wurden sie aus Angst vor der Prozedur wieder beweglich. Nur einige Unglückliche mit schwerem Gelenkrheuma oder durch Lues Gelähmte heilte auch diese Methode nicht.
Das ,, normale" Lagerleben begann wieder mit Morgenzählappell, darauffolgendem Arbeitsappell, Ausrücken zur Arbeit, Einrücken zum Mittag, Antreten zum mittäglichen Arbeitsappell, Ausrücken zur Arbeit, gegen fünf Uhr nachmittags wieder Einrücken, dann neuerlichem Antreten zum Abendzählappell, der niemals weniger als anderthalb Stunden dauerte. Zum Wecken, zum Antreten, zum Abtreten und zur Nachtruhe, immer tönte die Sirene, deren Heulen den Rhythmus des Lagerlebens grell untermalte.
Im Laufe des Jahres 1940/41 waren viele Transporte polnischer Häftlinge ins Lager gekommen. Es ging das Gerücht, daß sich unter den eingelieferten Frauen zum Tode verurteilte befänden. Man sprach von einem ganzen Transport aus Warschau , der nur zur Vollstreckung des Urteils nach Ravensbrück gebracht worden sei.
Es war wohl im Frühjahr 1942, als man eines Tages zehn Polinnen ,, nach vorn" holte und in den Zellenbau brachte. Kurz vor dem abendlichen Zählappell wurde plötzlich die Lagerstraße geräumt. Alles mußte sofort in die Baracken, und die Türen mußten geschlossen werden. Häftlinge, die in der Küche und dem Krankenrevier arbeiteten, unter ihnen waren viele Polinnen, sahen nun, wie man die zehn Frauen in langen Kleidern ohne Gürtel, einer Art Büßerhemden, barfuß vom Zellenbau über den Lagerplatz führte. Sie bemerkten, wie die Mädchen sich ganz fröhlich umwandten und nach dem Revier blickten, und während sie zum Lagertor hinausgingen, winkten sie mit den Händen den Freundinnen, die sie hinter den Fenstern des Krankenhauses vermuteten, zum Abschied zu.
Die Sirene heulte zum Abend- Zählappell. Es war gegen 6 Uhr. Die Tausende Frauen standen ausgerichtet und schweigend. Abendliche Stille lag über der Lagerstraße. Da knallte plötzlich jenseits der Lagermauer eine Infanteriesalve, und kurz danach hörte man hintereinander zehn Revolverschüsse. Wir alle wußten, was geschehen war, und keiner wagte sich zu rühren. Uns gegenüber stand ein Polenblock. Ich sah, wie Hunderte Lippen sich im Gebet bewegten. Und jenseits der Lagermauer ragten die Kiefern so wie alle Tage, und auf dem Dachfirst der Kommandantur saßen Scharen von Krähen, so wie alle Tage.
Nach diesem Zählappell hatten viele Frauen ein anderes Gesicht. Das erste Mal war der Mord an Mitgefangenen vor aller Ohren geschehen. Ahnungsvoll begriffen wir den Anbruch schrecklicher Ereignisse.
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