gegenüber mit ihrem Pflichtbewußtsein und beschimpften sie als nachlässig oder faul. Und als sie dann immer kränker wurde, ihre Kräfte mehr und mehr nachließen, sie immer häufiger umfiel und nicht mehr auf den Beinen stehen konnte, verbreiteten die Stalinistinnen, sie sei eine Simulantin.
Im heißen Sommer 1941 hatte man in den Schneidereien schon Nachtschichten eingeführt, wurden Entkräftung und Unterernährung bei den Häftlingen immer sichtbarer. Die Beine der Frauen waren an den Knöcheln dick angeschwollen und mit Furunkeln und Geschwüren bedeckt. Da kamen im Lager einige Fälle von Lähmung vor. Ob diese ersten Erkrankten Opfer der Lueskuren des SS - Arztes Sonntag waren, weiß ich nicht. Erst als es ungefähr zwölf Gelähmte gab, wurde man aufmerksam. Der Lagerkommandant Kögel erfuhr es und machte dem SS - Arzt erregte Vorhaltungen. Gerüchte drangen ins Lager, daß in Mecklenburg Kinderlähmung herrsche, und Dr. Sonntag verhängte über Ravensbrück die Quarantäne. Die Häftlinge wurden in die Blocks gesperrt und keiner rückte mehr zur Arbeit aus. Dort, wo die Lagerstraße auf den Platz mündete, wurde ein Stacheldrahtverhau errichtet. Die in der Küche arbeitenden Häftlinge durften nicht in ihre Baracken zurückkehren, sondern schliefen im Bad. Keine Aufseherin betrat mehr das Lager. Die einzige, die sich gegen Kinderlähmung gefeit fühlte, war die Oberaufseherin Zimmer. Sie watschelte von einem Block zum anderen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Eigentlich herrschte allgemeine Freude, nur die Tatsache, daß jeder Tag neue Gelähmte brachte, die auf Bahren von den einzelnen Blocks geholt und in eine gesonderte Krankenbaracke gefahren wurden. verbreitete Angst und Unruhe. Die von der Lähmung Befallenen zeigten alle das gleiche Krankheitsbild: sie waren plötzlich keiner Bewegung mehr fähig. Auffallend schien nur, daß keine ,, alten" Politischen oder Bibelforscher betroffen wurden, sondern hauptsächlich Asoziale, Zigeuner und„ Polenliebchen". Wenn ich mich recht erinnere, gab es nach acht Tagen schon gegen hundert..Kinderlähmungen". Eine Flut von Desinfektionsmitteln ergoß sich über das Lager. Die Toiletten, die Waschräume, die Tagesräume, alles machte man keimfrei. Die Blocks stellten ihre Essenkübel auf der Lagerstraße am Drahtverhau ab und entfernten sich, ohne mit den nachfolgenden in irgendeine Berührung zu kommen. Sofort wusch ein Küchenhäftling jeden Metallkübel sorgfältig mit einer desinfizierenden Flüssigkeit ab. Streng voneinander gesondert, machten die Häftlinge jeder Baracke zweimal am Tage ihren Spaziergang. In dieser glücklichen Quarantänezeit waren die Bibelforscher gerade mit den hundert Asozialen gestraft, und auch unter denen auf unserem Block grassierte die ,, Kinderlähmung ".
Nach ungefähr zwei Wochen strengster Quarantäne erschien, von irgendwo beordert, ein anderer SS - Arzt, wohl ein Spezialist für Kinderlähmung. Und was stellte sich heraus? Die Lähmung war eine Massen
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