der SS- Mann in der Wachstube es nicht gerade vergaß, so schaltete er am Nachmittag Radiokonzert ein. Hatte man, wie ich, jahrelang keine Musik gehört, war das ein großes Geschenk, und man ertrug sogar ge­duldig die häufigen Militärmärsche und noch gräßlicheren Kriegsgesänge der Hitlersoldaten, um manchmal Schubert oder Mozart hören zu dürfen. Da gingen die Tausende Frauen in gestreiften Häftlingskleidern, paar­weise oder einzeln, jede mit dem vorschriftsmäßigen Kopftuch, das nur zwei Zentimeter Haare freilassen durfte, wie auf einem gespenstischen Korso nach den Tönen von richtiger Musik immer im großen Kreis her­um. Aber auch so ein Sonntagsspaziergang war umwittert von Gefahren. Plötzlich tauchte zwischen den friedlich plaudernden Paaren ein be­stiefeltes SS- Weib mit oder ohne Hund auf, stieß von hinten kommend die Frauen mit der Faust auseinander, wenn sie nicht augenblicklich zur Seite wichen und der trampelnden Megäre Platz machten. Erblickte sie aber gar welche, die es gewagt hatten, sich beim Spaziergang unterzu­haken, dann setzte es Backpfeifen und Meldungen. Dasselbe konnte ge­schehen, wenn eine die klammen Hände unter den Schürzenlatz gesteckt hatte oder für ein unvorschriftsmäßig gebundenes Kopftuch, für ein zu kurzes Kleid, ein zu eng auf Taille sitzendes oder eine zu fest gebundene Schürze. Die Frauen hörten ja im Konzentrationslager nicht plötzlich auf eitel zu sein! Sie waren jung und wollten selbst in den gestreiften Lumpen ,, hübsch" aussehen. Wieviele Meldungen setzte es bei den Asozialen allein wegen abgenähter oder gekürzter Kleider. Das machten sie sich heimlich mit gestohlenen Fäden aus der Schneiderei, um ,, ele­gant" zu sein. Ein viel schwerwiegenderes Vergehen aber waren abge­rissene oder falsch aufgenähte Häftlingsnummern und Winkel.

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An so einem Sonntag ging ich zwischen den Frauen allein auf der Lagerstraße herum und sehnte mich nach der Unterhaltung mit einem Menschen. Ich sah auf die mit den roten Winkeln, und unter ihnen er­kannte man an Gesichtsausdruck und Haltung sofort die alten Poli­ tischen . Da hörte ich einige Schritte hinter mir laut die russischen Worte: ,, Govaritje porussky?"( Sprechen Sie russisch?) Im Herbst 1940 gab es noch keinen russischen Häftling in Ravensbrück , und ich blickte mich erstaunt um. Eine kleine, untersetzte Frau mit stechendem Blick hatte diese Frage an mich gerichtet, noch bevor sie neben mir ging, also sozusagen hinter meinem Rücken. Ich antwortete russisch, und da ging sie ohne weiteres zu einer Unterhaltung in deutscher Sprache über. Ganz selbstverständlich teilte sie mir mit, daß sie gehört habe, ich hätte in Moskau gelebt und daß sie dort auch Bekannte habe. Dann fragte sie weiter, wo ich denn gewohnt hätte. Nachdem ich es ihr mitgeteilt hatte, meinte sie: ,, Da kennst du ja sicher auch den Genossen Tschernin?" Ich bejahte und schon kam die nächste Frage: In welchem Zimmer des Hotels Lux wohnte der denn?" Da war es natürlich um meine Harm­losigkeit geschehen die Kommunisten wollten mich also von neuem

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