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Nach einer nicht endenwollenden Zeit erscholl das letzte Mal der Ruf: Fertigmachen mit Sachen!" Die Gitter wurden aufgeschlossen, wir schoben uns heraus, kletterten die hohen Stufen aufs Eisenbahngeleise hinunter und standen fröstelnd in der eisigen Winterluft. Von weitem konnte man einen Bahnhof sehen, und wir entzifferten das Schild: Brest­Litowsk.

In unserem Transport waren achtundzwanzig Männer und wir beiden Frauen. Ich kann mich nicht erinnern, auch nur ein Gesicht unterschieden zu haben, nicht am Bahnhof von Brest- Litowsk , nicht im Wald von Brest- Litowsk , wohin man uns Frauen, einen alten Professor und einen Beinkranken im Lastwagen brachte und wir die Männerkolonne er­warteten, auch nicht an der Brücke von Brest- Litowsk . Alle Gesichter waren gleich starr und unbeweglich vor Angst.

Wir standen und blickten über diese Eisenbahnbrücke, die die Grenze bildete zwischen dem von den Deutschen besetzten Polen und dem von den Russen okkupierten Teil. Über die Brücke kam ein Soldat langsam auf uns zu. Als er sich näherte, erkannte ich die Soldatenmütze der SS. Der NKWD - Offizier und der von der SS hoben grüßend die Hand an die Mütze. Aus einer hellbraunen, länglichen Ledertasche zog der NKWD Offizier eine Liste. Er war fast um einen Kopf größer als der von der SS. Sein Gesicht ledern und maskenhaft, wie man das in Schund­romanen immer beschrieben bekommt. Welche Namen er herunterlas, hörte ich nicht. Irgendwann vernahm ich ,, Buber- Nejman", und dann sah ich, wie sich drei von unserer Gruppe absonderten und erregt auf den NKWD - Offizier einsprachen. Irgendwer flüsterte: ,, Die weigern sich, über die Brücke zu gehen." Es waren der jüdische Emigrant aus Ungarn , ein deutscher Lehrer und ein junger Arbeiter aus Dresden , über den ich später erfuhr, daß er an einem bewaffneten Zusammenstoß mit den Nationalsozialisten im Jahre 1933 beteiligt gewesen, wobei ein Nazi ums Leben gekommen war. Ihm war es gelungen, zu fliehen und nach Sowjet­ruẞland zu emigrieren. Im Prozeß gegen die bei diesem Zusammenstoß verhafteten Kommunisten hatte man auf ihn, den Abwesenden, alle Schuld abgewälzt.

Dann sah ich, wie die drei über die Brücke getrieben wurden. Auf den ungarischen Emigranten, der einen Koffer trug, hatte es der SS- Mann besonders abgesehen: ,, Das jüdische Schwein will wohl kommunistische Literatur nach Deutschland einschmuggeln! Dem werden wir die Hammel­waden noch langziehen! Schneller, schneller! Nur keine Müdigkeit vor­schützen!"

Auf der anderen Seite der Brest - Litowsker Brücke stand eine Holz­bude. Betty Olberg schwankte vor Schwäche, Kälte und Erregung. ,, Bringt sie doch in die Hütte!" schlug einer vor. Man ließ uns beide hin­ein. Ein SS- Mann, mit einem Polizeihund neben sich, öffnete die Tür. Da

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