Zuchthaus verurteilt worden. In Haft hatte sie einen Selbstmordversuch gemacht, sich in einen Treppenschacht gestürzt.

Der Gefangenenwaggon wurde rangiert. Unsere Abteile hatten keine Fenster. Durch das Gitter über dem Gang konnte man etwas von der Außenwelt sehen. Anscheinend hatte man unseren Waggon an einen Schnellzug gehängt, denn die Stationen waren sehr selten. Das Rattern des Zuges machte eine Unterhaltung von Abteil zu Abteil unmöglich, deshalb verlangten wir von der Aufseherin, zur Toilette geführt zu werden. In vier Abteilen waren je sieben Männer. Da sah ich ein be­kanntes Gesicht, den ehemaligen Chefredakteur der kommunistischen Zeitung ,, Ruhrecho", einen ungarischen Emigranten. Er schien mich nicht wiederzuerkennen. Andere dagegen, die mir völlig fremd waren, taten ganz vertraut. Ich konnte nur Minuten an den Gittern stehen bleiben, um immer wieder die gleiche Versicherung zu hören: Wir werden be­stimmt über die litauische Grenze abgeschoben."

Während des ganzen Transportes wurden wir weiter so gut ver­pflegt wie in Butirki, mit Brot, Butter, Käse, Konserven, Tee und täg­lich einer Schachtel Zigaretten. Die Begleitmannschaft war freundlich, aber völlig unzugänglich für Fragen über das Ziel unserer Reise. In den Männerabteilen begannen sie zu singen, mit besonderer Begeisterung das ,, Solowki- Lied". Der Text stammte von einem jungen deutschen Schau­spieler namens Drach, der mit im Transport war. Ehemalige öster­reichische Schutzbündler, es mögen drei oder vier gewesen sein, sangen: Wir Kameraden der Berge sind gegen alles gefeit..

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Betty und ich fabrizierten aus Weiß- und Schwarzbrot Schachfiguren, saßen mit angezogenen Beinen auf dem unteren Liegeplatz, spielten und hörten vergnügt und belustigt den Liedern und dem Lärm aus den Männerabteilen zu. Irgendeiner posaunte laut anrüchige Witze auf den Gang hinaus.

Ob man unseren Waggon abgehängt oder der Zug so lange auf der Strecke gestanden hatte, weiß ich nicht. Es war wohl am dritten Tag früh, am 7. oder 8. Februar 1940, als uns die Männer zuriefen: Wir haben Minsk schon passiert und fahren in der Richtung nach Polen weiter!"

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Da sangen sie nicht mehr, und die munteren Zurufe verstummten. Als der NKWD - Soldat das Gitter aufschloß, um Essen hereinzugeben, irgendeine Konserve mit Erbsen und Fleisch, wies man es zurück: ,, Be­halten Sie das, wir wollen nichts mehr essen!"- ,, Aber warum denn? Eẞt nur, eẞt nur! Ihr werdet noch viel hungern müssen!" redete er uns freundlich zu. Die Angst saß einem in der Kehle. Erst da merkte ich, wie sehr ich mich, wider alle Vernunft, an die Hoffnung geklammert hatte, über irgendeine litauische Grenze, in irgendein Ausland abge­schoben zu werden...

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