Diese Berlinerinnen erzählten mir auch von Käthe Schulz, die sie in Kotlas, auf dem Transport nach dem fernen Osten getroffen hatten.

Trotz Zenzl Mühsams Warnungen wurden wir täglich blühender, rundlicher und optimistischer. Wir bekamen Bibliotheksbücher, konnten einkaufen und durften bis zu einer Stunde spazierengehen, was bei einer Frischluftfanatikerin dazu führte, daß sie sich beide Backen erfror, denn es herrschte im Januar 1940 in Moskau eine Kälte bis zu vierzig Grad. Unsere Fenster waren voller Eisblumen und an der pfortuschka", dem kleinen Fensterchen, das auch den Winter über zu öffnen geht, hingen morgens lange Eiszapfen. Die Gefängnisaufseherinnen mußten wohl Sonderinstruktionen für unsere Behandlung bekommen haben, denn die Worte ,, Dawaj! Dawaj!" und ,, Schtraf"( Strafe) waren aus ihrem Voka­bularium verschwunden, ebenso ,, ruky nasad!" und" glasa vnisu!"

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Kaum war eine Woche in der Zelle vergangen, da erkrankten alle Frauen an Durchfall. Vielleicht hatten wir zu fett und zu gut gegessen. Zenzl Mühsal bat die Aufseherin um ein Mittel. Was aber geschah? In der Zelle erschien ein Arzt mit zwei Krankenschwestern und nahm eine genaue Untersuchung aller Kranken vor. Bettruhe, Medizin und Diät. Einige Male am Tage kamen sie, um unseren Zustand zu kontrollieren. Wir lagen in den Betten, lachten, machten Witze und schüttelten den Kopf über dieses Theater. In Sibirien konnte man monatelang blutigen Durchfall haben, und kein Hahn krähte danach; wenn du nicht über 38 Grad Fieber hattest, mußtest du von Sonnenaufgang bis Sonnenunter­gang hinaus aufs Feld. Und jetzt wachte man plötzlich so aufgeregt über unsere Gesundheit. Welchen Wert hatte unser Leben jetzt für die NKWD ?

Die Krankheit" verging, und geduldig und sorglos warteten wir auf unsere baldige Befreiung aus der verwunschenen Zelle. Einmal gingen wir über den Korridor zum Waschraum. Da standen vor einer Zellentür in unserem Gang dieselben blanken Zinkeimer. Erregt beratschlagten wir im Waschraum: ,, Das müssen auch, Sonderhäftlinge' sein!" Gewöhn­liche Gefangene in Butirki bekamen ihre Kohlsuppe in alten, abgeschabten Kübeln. ,, Nachher, wenn uns die Aufseherin in die Zelle zurückführt, werden wir husten, laut mit den Füßen scharren und irgend etwas Deutsches rufen. Soll uns die Aufseherin ruhig zur Meldung bringen. Was kann uns schon passieren!"

Scharrend und hustend gingen wir über den Korridor. ,, Ruhe!" be­fahl die Aufseherin. Niemand antwortete in der Zelle mit den Zink­eimern. Das Rätsel beschäftigte uns den ganzen Tag. Bei uns gab es doch noch freie Betten? Wozu denn eine andere Zelle belegen? Am Abend wiederholten wir den Versuch. Wir hatten Erfolg, eine Stimme hinter der bewußten Zellentür rief: ,, Karola!" Jetzt waren wir sicher, daß dort die Frauen saßen, die man vor einigen Tagen aus unserer Zelle heraus­geholt hatte. ,, Was mögen die inzwischen erfahren haben, daß man sie

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