Keiner brüllte: ,, Weiber aufstehen!" Keine Flüche antworteten. Man lag in einem strahlend beleuchteten, weißgetünchten Zimmer, man konnte sein Gesicht in ein Kopfkissen schmiegen, hatte überhaupt keine Wanzenstiche! In allen Betten gähnten sie und räkelten sich, keiner hastete oder suchte aufgeregt herum. Einige hatten sich auf die andere Seite gelegt und schliefen ruhig weiter. Ein paar hopsten schon in ihren leinenen Männerunterhosen herum. Von allen Seiten grüßte man uns und wünschte ,, Guten Morgen!" Herrgott, ist denn das alles denkbar! Vor einer Woche noch in einer verdreckten Lehmhütte, in Sibirien , fest überzeugt, daß man nie mehr lebend herauskommen würde?!
So allmählich waren die meisten aufgestanden und saßen plaudernd und lachend auf den Bänken an der Zellentür. Einige Kranke oder Faule blieben im Bett. Die Aufseherin führte uns zum Waschraum, wo wir wohl eine Stunde lang herumtrödelten, von niemand ermahnt oder belästigt. Danach wurde uns das Frühstück in blitzenden Zinkschüsseln in die Zelle gereicht. Es gab Schwarz- und Weißbrot, Butter, für jeden zwei Eier und richtigen chinesischen Tee. ,, Da staunt ihr wohl", meinte Zenzl Mühsam ,,, das ist aber nur der Anfang. So geht es weiter, mittags und abends. Es ist, um sich an den Kopf zu greifen!"
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Wir saßen um den Tisch herum wie eine große Familie. Zenzl schenkte den Tee ein. Was haben sie nur mit uns vor?" Es gab nur Vermutungen, keiner wußte etwas. ,, Sicher schiebt man uns über irgendeine baltische Grenze ab." ,, Das ist aber doch unglaublich, nachdem wir durch Sibirien , durch die Zuchthäuser gegangen sind, nachdem wir Zeugen der ganzen Unmenschlichkeit des Stalin 'schen Regimes geworden sind." Aber alle aufkommenden Bedenken wurden zurückgedrängt durch das Glück, Sibirien entronnen zu sein, wieder leben zu dürfen, und wir glaubten immer zuversichtlicher an ein gutes Ende.
Wir begannen zu turnen, rannten um den Tisch herum, spielten und sangen. Ich glaube, noch nie hat eine Zelle in Butirki so fröhliche Häftlinge geborgen. Alles war uns erlaubt. Da wurde Schach gespielt auf richtigen Brettern, mit holzgeschnitzten Figuren. Einige hatten von der Aufseherin Flickzeug verlangt und erhielten gleich ein ganzes Bündel mit dazugehörigen Nadeln und Faden, und voller Eifer machte man Büstenhalter und Wäsche. Wir sprachen laut, wir lachten, wir sangen unsere Lieder, und kein Vierkant pochte rabiat gegen die Zellentür. Wir betitelten uns selbst nur noch mit Sonderhäftling!
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Karola Neher trug Zuchthauskleidung, und ich muß gestehen sie stand ihr gut. Verglichen mit den Lagerlumpen konnte man dieses Kostüm geradezu elegant nennen. Es bestand aus einer marineblauen Flanellbluse mit roten Aufschlägen, einem dunklen Rock, einer halblangen Jacke aus braunem, glänzendem Stoff, mit Watte gefüttert, mit einer ebensolchen Ohrenklappenmütze. In den meisten Zuchthäusern Sowjet- Rußlands schor man die Frauen kahl. Karolas Haare begannen
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