ersten Worte fanden: ,, Sind die verrückt geworden? Jedem eine KiloBüchse Schweinefleisch!? Den Reisepajok lassen wir uns gefallen. Was kann denn bloß passiert sein, daß man uns so behandelt?" Frau Fon sprach die Wagenschaffnerin an und bat um einen Büchsenöffner. Gabel oder Messer besaßen wir zwar nicht, aber es ging vorzüglich mit den Fingern. Am Abend dieses Tages bogen wir drei uns vor Bauchschmerzen, denn auf der nächsten großen Station waren wir auch noch in den Wartesaal geführt und mit einem Mittagessen bewirtet worden. Solche Ausschweifungen waren unsere Mägen nicht mehr gewöhnt.
Wir fuhren durch bergiges Land und sahen die ersten Bäume. Wir begrüßten sie wie Wunder. Nun waren wir endgültig der Steppe entronnen, wir ließen Asien , Sibirien hinter uns. Dann kamen steile Berge, mit schneebeladenen Tannen. Unser Zug durchquerte den Ural .
Die beiden NKWD - Beamten sprachen während der ganzen Reise kein Wort mit uns. Sie saßen im Nebenabteil, rauchten und spielten Domino .
Der gutgeheizte Zug hatte eine sehr belebende Wirkung auf unsere Läuse. Mit der ungewohnten Ruhe kam das Bedürfnis, sich zu säubern. Wir saẞen etwas schamhaft auf unseren Liegeplätzen, den Rücken gegen die Tür gewandt, und knackten eifrigst. Ich bedaure die Reisenden, die nach uns dieses Abteil benützten.
Auf jeder Station hielt ich Ausschau nach einer Möglichkeit, den Brief, der in meinem Büstenhalter knitterte, loswerden zu können. Aber soweit beherrschte unsere junge Aufseherin doch ihr Fach, daß sie stets hinter uns ging. Auch zogen wir durch unser merkwürdiges Aussehen die Blicke so vieler Reisender auf uns, daß es nicht möglich war, den Brief unbeobachtet in einen Kasten zu werfen. Als der Zug in Kasan hielt, bat ich die Aufseherin, mich auf die Toilette zu führen, und dabei gelang es mir, die Tür, die sonst immer einen Spalt breit offen bleiben muẞte, zu schließen, denn die Aufseherin war durch eine Theatertruppe, die in Kasan zustieg, völlig in Anspruch genommen. Ich öffnete vorsichtig das Fenster der Toilette. Auf dem niedrigen Bahnsteig für Gepäck kam gerade ein Arbeiter entlang, ich warf ihm den Brief vor die Füße, konnte eben noch sehen, wie er sich bückte und zog nicht ohne Herzklopfen das Fenster hoch. Als ich ins Abteil zurück kam, waren weder Arbeiter noch Brief mehr zu sehen.
Der Gang vor den Abteilen stand gedrängt voller Reisender. Eine laute, lebhafte Gesellschaft. Jeden„ ,, freien" Menschen betrachteten wir voller Interesse und Neugier, wie ein anderes Lebewesen. Aber die zuletzt Eingestiegenen unterschieden sich auffallend von den anderen Passagieren. Aus der Unterhaltung, die sie führten, erfuhren wir, daß sie Schauspieler seien, die von einer Gastspielreise aus dem fernen Osten kamen. Und wieder ereignete sich die gleiche köstliche Szene, wie nun schon einige Male auf dieser Reise: einer der Schauspieler fragte uns
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