99

99

,, Menschenskind", flüsterte ich Klara Vater zu: Wir scheinen mit einem richtigen Zug zu fahren! Soll ich die Beamtin mal fragen?" Ich näherte mich ihr, als sie in einem gewissen Abstand von den Soldaten stand, und fragte:, Wohin fahren wir denn?" Sie antwortete so bereitwillig, als habe sie nur auf ein Gespräch gewartet. ,, Selbstverständlich nach Moskau , mit dem Schnellzug um sechs Uhr!" Mir war, als müßte ich vor Freude schreien. Schnellzug und Moskau ! Das sagte sie so gelassen dahin. Fort von Karaganda, weg aus Asien , aus Sibirien , nach Europa zurück! Das bedeutete ja weiter leben dürfen! Ich vergaß alle Vorsicht. Lief zu Klara Vater und Frau Fon. Stellt euch vor, wir fahren nach Moskau !"

Da trat der NKWD - Soldat an uns heran. Es war ein Chargierter. ,, Sie dürfen im Waggon mit den Reisenden keinerlei Gespräche führen, auf eventuelle Fragen nicht antworten." Ein Zug fuhr ein. Wir rannten wie richtige Reisende neben den Soldaten her, die einen bestimmten Waggon suchten. Wir stiegen ein. Zwei leere Abteile in einem normalen Personenwagen mit Liegeplätzen schienen für uns reserviert. In den übrigen Coupés saßen zivile Reisende. Jede von uns nahm einen Liege­platz in Beschlag. Mir war zum Lachen, zum Singen, zum Pfeifen zu­mute! Der Zug war sauber und gut geheizt, und als er anfuhr und es keinen Zweifel mehr gab, daß es nun westwärts ging, begann selbst die apathische Frau Fon zu lächeln.

99

Unsere NKWD Bewachung bezog das Nebenabteil, und auf den ersten Blick konnte man nicht feststellen, daß wir zueinander gehörten. Reisende gingen durch den Gang zur Toilette und blickten auf die neu Zuge­stiegenen. Nun sind in der Sowjet- Union Menschen in grauen Watte­jacken, zerlumpt und mit Bündeln keine Seltenheit. Selbst wir, mit diesen merkwürdigen Gesichtern, die das Lager prägt, schienen nicht aufzu­fallen. Nach kurzer Zeit blieb eine Frau vor unserem Abteil stehen und fragte freundlich:, Wohin fahren Sie denn?" Wir drei schwiegen. Sie fragte noch einmal. Schweigen. Da huschte über ihr Gesicht ein er­schrecktes Verstehen. Sie nickte nur und verließ schnell unsere Tür. Wir drei schüttelten uns vor Lachen. Und das wiederholte sich viele Male auf dieser langen Reise. Am Morgen des zweiten Reisetages trat die NKWD­Begleiterin in unser Abteil der Zug hielt gerade auf einer größeren Station und fragte: ,, Was wollen Sie essen?" Wir blickten uns ver­legen an. Aber wir haben doch noch Brot und Fleisch", meinte eine zögernd. Die freundliche Formulierung der Frage, als lade man jemand in ein Restaurant ein, kam so unerwartet und war so ungewohnt, daß wir nur betreten schweigen konnten. Ohne auf Antwort zu warten, schloß sie die Türe unseres Abteils ab und verließ den Waggon.

-

Nach geraumer Zeit kehrte sie zurück und überreichte uns drei Kilo- Büchsen: ,, Das ist Schweinefleisch, für jede eine, und dieses Weiß­brot wird wohl vorläufig reichen." Sicher haben wir ,, Danke schön!" ge­sagt. Die NKWD - Beamtin war schon eine Weile fort, als wir drei die

137