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Wenn man einem Häftling etwas Ruhe gönnt, so pflegt er sofort, wo er geht und steht, einzuschlafen. Daß aber in unserer Situation, wo jede Minute etwas Unerwartetes, Neues bringen konnte, meine beiden Nachbarinnen nach kurzem Gespräch sanft einschliefen, war doch unbegreiflich. Ich rutschte von den Brettern, machte einen Rundgang durch das Sammellager und genoß nach dem Strafblock die Bewegungsfreiheit. Vor unserer Baracke begegnete ich einem bekannten Gesicht. Sie begrüßte mich wie einen alten Freund. Es war die junge Ukrainerin, die immer Heimweh hatte und die versucht hatte zu entfliehen, aber erwischt worden war. Jetzt kam sie zurück aus Dolinki mit einem neuen Urteil von zweieinhalb Jahren wegen Fluchtversuch und als strafverschärfend ,, pod konvoj". Da erst erfuhr ich in allen Einzelheiten die Geschichte mit den Flugblättern und der jungen asozialen Denunziantin. Wir gingen zusammen durch die Wintersonne hin zur Männerbaracke. Vielleicht konnte ich meinen usbekischen Kameraden noch einmal sehen? Wir standen am Stacheldraht, auf der anderen Seite einige blasse, unrasierte Männer., Wen wollt ihr denn sprechen?" rief einer., Wurde der usbekische Offizier, der nach Dolinki geht, schon weitertransportiert?" Einer näherte sich dem Stacheldraht. ,, Bist du eine Deutsche?" ,, Kennst du den Genossen Schubert?" ,, Sehr gut sogar. Hast du etwa mit ihm zusammengesessen?" ,, Ja, in Butirki, kurz bevor ich zum Urteil ging. Er sitzt seit Juli 1937, also seit zweieinhalb Jahren, in Untersuchungshaft." Dann fragte ich nach anderen Bekannten.„, Von Hermann Remmele haben sie erzählt, er hätte den Verstand verloren, prügelte sich ständig mit dem Aufsichtspersonal und den Mithäftlingen." , Wieviel Jahre hast du denn bekommen?" fragte ich ihn. ,, Fünfzehn; aber vielleicht gibt es Amnestie. Das ist unsere einzige Hoffnung." Es kam einer aus der Baracke und erzählte, daß der Usbeke bereits nach Dolinki abtransportiert worden sei. Wir dankten und gingen weiter. Hinterm Stacheldraht, vor der Arrestbaracke, stand ein alter, zerlumpter Mann. Die Ukrainerin kannte ihn schon. ,, Der kommt erst nach Dolinki, kriegt erst seine Strafe." ,, Auch wegen Fluchtversuch?" ,, Aber, wo denkst du hin, der! Dem sind ein paar Schafe kaputtgegangen, dafür kann er sich auch mindestens seine zwei Jahre abholen."
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,, Ja."
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Zu Mittag wurde dieselbe erbärmliche Soja- Ballanda unter großem Geschrei mitten auf dem Lagerplatz trotz über 20 Grad Kälte ausgeteilt. Was aber interessiert Soja- Suppe einen Menschen mit einem gutfundierten Brotvorrat und einem Säckchen mit Salzfischchen? Meine beiden Schläferinnen waren erwacht, wir ,, organisierten" uns ,, Kipjatok", machten einen Tee und schwelgten in Schwarzbrot und zähen Salzfischen. Frau Fon gestand mir flüsternd: ,, Ich habe ein Säckchen mit Hirse. Die letzte Zeit arbeitete ich doch in der Küche. Die haben sie mir zum Abschied geschenkt. Wenn ich nur meinen guten Posten nicht verloren hätte!"
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