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noch, wie man sie wegschleppte." Jedes dieser ersten Pakete löste Tränenströme aus. Man hat uns nicht vergessen!

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Die kleine, rundliche Alexandra litt erbärmlich unter dem Hunger. ,, Soll ich an meinen Mann schreiben? Soll ich ihn, nach allem, was vor­gefallen ist, um etwas zu essen bitten?" Sie kämpfte einen schweren Kampf. Nein, er ist ein Feigling und wird auch das nicht machen." Aber da fiel ihr eine Moskauer Bekannte, eine alte Schauspielerin, ein. Vielleicht ist sie nicht verhaftet. Sie wird mich nicht vergessen haben. Nur um ein wenig Zucker will ich sie bitten." Der Brief wurde abge­schickt, und ich erlebte noch, kurz vor meinem Abtransport aus Burma, Alexandras erstes Paket, das einige Kilo Zucker enthielt.

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Und dann kam ein schmerzlicher Abschied: unsere geliebte alte Tolstojanerin wurde auf einen Invalidenabschnitt transportiert. Unser Barackenraum war ohne sie völlig verwaist. Mich traf der Abschied be­sonders hart. Keiner erwartete mich nun mehr am Abend mit liebe­vollem Lächeln. Für Tamara war es so, als habe sie eine Mutter ver­loren. Jetzt gab es keinen mehr, der ihr die Sachen sauber hielt, und Tamara selbst hatte keine Kraft dazu.

Der Strafblock hatte sein Gesicht von einem Tag zum anderen ge­wandelt, wir hatten nämlich ungefähr 150 Zugänge, nur Kriminelle, be­kommen. Alle Gänge waren überfüllt, trotz der Kälte lagen sie in dem Raum vor der Baracke, in dem weder Türen noch Fenster eingesetzt waren. Man sang, es wurde Wodka getrunken, Lebensmittel wurden eingeschmuggelt. Von diesen Zugängen ging kaum einer zur Arbeit. Sie waren aber nicht neu im Lager, sondern wurden, wie man mir erzählte, gesammelt, um auf einen Strafabschnitt transportiert zu werden. Die Kriminellen sangen ihre eigenen Lieder, solche, die in der Haft und in Sibirien entstanden sind. Da mir der Jargon der Kriminellen fremd war, dauerte es lange, bis ich überhaupt etwas von diesen Liedern ver­stand. Sie waren eine Mischung von Sentimentalität und Betonung ihres Banditenselbstbewußtseins., 0 Moskwa, Moskwa, Moskwa, Moskwa, haha! Wieviel Kummer hast du uns gebracht, haha! Nur mit einer zer­schlagenen Fresse bist du ein richtiger Bandit! Ach, warum hat uns die Mutter geboren, haha!" Ein anderes Lied besingt im Rhythmus eines fahrenden D- Zuges den miẞglückten Versuch, in der Eisenbahn von Pensa nach Moskau einen Koffer zu stehlen, und wieder ein anderes machte sich über Untersuchungsrichter und Staatsanwalt lustig. Auch die Lagerobrigkeit wurde in vielen Liedern verulkt.

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Im Strafblock gab es noch einen Tolstojaner, es war ein Mann von. ungefähr 60 Jahren, den ich schon im Sammelpunkt des Lagers gesehen hatte, als er mit seiner Konservenbüchse um einige Löffel Suppe bettelte. Seine erste Funktion in Burma war die eines Wächters vor dem Arrest­lokal. Das Lagergefängnis war noch mit einem besonderen Stacheldraht­

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