Sprecherlaubnis hat der Natschalnik der NKWD der Ponjatowska ganz merkwürdige Fragen gestellt."
Nichts ist unerträglicher als die Vorstellung, daß dein Nachbar vielleicht ein Verräter ist. Was habe ich ihr, um Gottes willen, erzählt? Wenn sie will, kann sie mir daraus einen Strick drehen und es als konterrevolutionäre Äußerung auslegen. Und da sitzt abends Nina nun auf den Brettern in einem schwarzen, zerschlissenen Unterrock, von dem ihre bleichen Schultern und Arme mit dem schütteren Fleisch häẞlich abstechen und spricht mit einer Stimme, die gewohnt ist, daß man ihr lauscht. ,, Es ist auch hier unsere Pflicht, wachsam zu sein. Unsere Heimat befindet sich in großer Gefahr..." Ich drehte mich angeekelt auf die andere Seite:„ Tamara, ist das nicht zum Ausspucken?" ,, Diese Reden hält sie nur für den Spitzel. Das mußt du begreifen. Wer weiß, was sie irgend jemand leise gesagt hat." Nina war zu 15 Jahren KZ verurteilt. Nicht lange danach wurden wir von unseren Zweifeln befreit. Raisa, die Fabrikarbeiterin aus Charbin , war der NKWDSpitzel. Unvorsichtigerweise hatte man sie während der Arbeitszeit von ihrer Kolonne weggeholt, außerdem meldete sie sich zu jeder Sprecherlaubnis.
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Mit dem beginnenden Winter kamen auch die ersten Pakete. Während der Frühjahrsbestellung, Sommerzeit und Erntezeit ist es nicht erlaubt, Pakete zu erhalten. Man will die Häftlinge zwingen, um die 600 Gramm Brot das Pensum zu schaffen. Mit Paketen wäre der Hunger nicht so groß.
Das erste Paket war ein Ereignis. Es war die Leningrader Lehrerin, die es von ihrem Mann bekam. Die Schachtel wurde zurückbehalten und der Inhalt einer sehr genauen Kontrolle unterzogen. Nur die wenigsten Häftlinge bekamen von ihren Angehörigen Pakete geschickt. Wer wagt es schon, für einen Häftling in Sibirien ein Paket auf die Post zu bringen, wenn er damit seine eigene Freiheit aufs Spiel setzt?
Unsere alte ,, Newalnaja" war die zweite Glückliche. Ihre 12jährige Enkelin hatte das Paket gepackt und als Absender gezeichnet. ,, Mein liebes kleines Mädchen, wie schön sie alles gemacht hat!" Und dabei lag ein Zettel, auf dem mit Kinderschrift stand: ,, Liebe Babuschka, ich habe den Zucker ganz klein gebrochen, so wie Du ihn liebst. Ich denke immer an Dich... 66
Die alte Tolstojanerin erzählte mir, wie sie mit ihrer kleinen Nadja zusammengelebt hat. Wie sehr sie dieses Kind liebte! Als mich die NKWD aus dem Hause wegführte, lief das Kind weinend hinterher und schrie: Laßt mir meine Babuschka!' Man wollte sie zurückhalten, doch sie sprang in ihrer Verzweiflung vor das Auto, in das ich stieg. Ich sah
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