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In den 14 Tagen Schonzeit machte ich die Bekanntschaft einer Leningrader Sprachlehrerin, die den ganzen Tag auf den Brettern lag. Sie war eine zarte Frau von 30 Jahren und so schwer herzkrank, daß sie beim Gehen nach Atem rang. Sie wurde selbst vom Feldscher nicht zur Arbeit geschickt. Sie erzählte von daheim, von ihrem kleinen Mädchen. Einmal fragte ich sie nach ihrem Urteil. Erschreckt bat sie:„ Es ist besser, über so etwas nicht zu reden." Nach einer Weile aber: Sprechen Sie englisch ?" ,, Ja." ,, Das ist gut, dann können wir miteinander sprechen, aber niemals auf russisch . Man kann hier den Wänden nicht trauen!" Und so erfuhr ich, daß sie die Tochter eines Leningrader. Ingenieurs war, der beim Schachty - Prozeß im Jahre 1928 verhaftet worden, für fünf Jahre ins Lager nach Sibirien gekommen und dort nach drei Jahren verstorben war. Sie liebte ihren Vater über alles und trug eine kleine zerknitterte Fotografie bei sich, die sie durch die Untersuchungshaft gerettet hatte. Sie hatte sich niemals politisch betätigt und war seit fünf Jahren mit einem Ingenieur verheiratet. Ihre Anklage lautete auf Spionage, sie hatte Engländern russischen Unterricht erteilt.
Nach vierzehn Tagen wies man mich der Kolonne„ Gemüsekeller" zu, und von da ab wurde ich der ,, Ernährer" meines Barackenraumes. Das war ein aufregendes, aber um so befriedigenderes Leben. Der Gemüsekeller barg Schätze wie Kartoffel, Mohrrüben, rote Rüben und Zwiebel, Dinge, die wir im Strafblock niemals zu essen bekamen. Das große Problem war: wie stiehlt man, ohne erwischt zu werden? Alle Häftlinge der Kolonne wurden das erstemal beim Verlassen des Kellers und ein zweitesmal beim Betreten des Strafblocks visitiert. Nun war es auf einmal ein Glück, eine Politische zu sein, denn ich wurde nur auf dem Rücken und an den Seiten des Körpers abgetastet, während man Kriminelle und Asoziale auch an Brust und Bauch untersuchte. Da konstruierte ich mir einen Beutel, der wurde an einer Strippe um den Bauch gebunden. Den galt es nun tagsüber, während der Arbeit, langsam mit Kartoffeln und Mohrrüben anzufüllen. Dann kamen noch ein paar Zwiebel in den Busen, und man trat leicht schwitzend vor Angst zum Nachhausemarsch an. Aber es lohnte sich wirklich. Was für ein Jubel im ganzen Raum, wenn die Beute auf die Bretter geschüttet wurde einer stand dabei selbstverständlich an der Tür und hielt sie fest zu, damit keiner aus einem anderen Raum es merkte und dann bereitete
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uns die alte Newalnaja in mehreren großen Konservenbüchsen eine Kartoffelsuppe. Dazu hatte sie schon tagsüber Kohlen gestohlen. Jeder im Barackenraum bekam seinen Anteil, und nach ein paar Wochen konnte man schon feststellen, daß wir uns erholten.
Nach einiger Zeit passierte mir ein Unglück. Ich hatte mir Wasser zum Waschen ,, organisiert", stolperte mit meinen Riesenschuhen über die Türschwelle und brach mir dabei den Mittelfußknochen. Daß es dieser
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