Tasso hatte mir eine Nachricht geschickt. Sie arbeitete in der Ver­waltung. Um mich sehen und sprechen zu können, war sie auf den Einfall gekommen, eine Inventur der Lagerkleidungsstücke der Häftlinge im Strafblock vorzuschlagen, und sie selbst führte diese Kontrolle durch. Unter irgendeinem Vorwand verließ sie den Raum des Natschalniks vom Strafblock, ließ mich aus der Baracke rufen, und wir standen seit Butirki wieder zum ersten Male beieinander. Sie erzählte mir kurz von ihren Verhören und ihrem Urteil und flüsterte:, Wenn du einen Brief raus­schmuggeln willst, mache das schnell. Ich habe eine sichere Gelegenheit." Sie drückte mir Papier und Umschlag in die Hand, und ich rannte, um ein paar Worte an meine Mutter zu schreiben. Welche phantastischen Hoffnungen verbinden sich mit so einem Brief. Nur ist er nie ange­kommen.

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Bald darauf kam ich in die Säcketrägerkolonne. Wir mußten von einer elektrisch betriebenen Reinigungsmaschine das Getreide in einen Speicher tragen, über ein schwankendes Brett bis hinauf auf den Getreideberg und den Sack über die Schulter hin ausleeren. Die Säcke wogen bis zu einem Zentner, und die Frauen ächzten unter der Last. An die Mauer des Speichers gelehnt saß ein Männerhäftling aus dem ,, freien" Lager und hänselte die vorbeigehenden Frauen. ,, Es wäre gescheiter, wenn du den Frauen hülfest, statt dich über sie lustig zu machen", meinte ich bissig. ,, Hört mal die deutsche Faschistin an, der sind die Säcke zu schwer! Da sind unsere russischen Frauen ein anderer Schlag! Bei uns sind die Frauen stolz, daß sie solch schwere Arbeiten machen können. Wir haben sogar Frauen- Udarnikis unter den Straßenbauarbeitern!" ,, Das ist schlimm genug. Besser wäre es, wenn die Männer mehr Rücksicht auf die Frauen nähmen, die sollen ja auch noch die Kinder zur Welt bringen!" rutschte mir heraus. Die anderen Frauen aus der Kolonne waren stehen geblieben. Und was mußte ich erleben? Sie ergriffen fast alle die Partei des Mannes. ,, Ja, wir sind auch stolz auf unsere Leistungen. Bei uns spielt die Frau eine andere Rolle als in den kapitalistischen Ländern. Wir sind gleich­berechtigt!" Ich schwieg und verdrückte mich.

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Von weitem sah ich Kolja, einen 18jährigen Jungen, der der Schütz­ling von Maslow aus dem Büro der Reparaturwerkstatt war. Kolja war im Lager nach einem Gelenkrheumatismus schwer herzkrank geworden und in eine Art religiösen Wahn verfallen. Er kniete nachts außen an der Barackenwand und betete. Wenn Maslow ihn nicht behütet hätte, wäre er wohl schon lange gestorben. Kolja ging über die Lagerstraße und rief mir zu:, Weißt du schon, daß heute zwei Häftlinge in die Frei­heit gegangen sind? Nazarenko wurde begnadigt, und Kriwinos ist heute gestorben!"

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Unter den in den Strafblock Neueingelieferten traf ich auch Nadja Bereskina wieder. Meine muntere Nadja vom Untersuchungsgefängnis

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