zur Abortgrube gehen durfte. So mußte ich mich immer melden und wurde in Begleitung dorthin geführt. Das war sehr beschwerlich auf die Dauer. So nach zehn Tagen hatte ich die Sache satt und ging allein hinaus. Draußen lag schon Schnee. Es war nur ein schmaler Pfad bis zur Grube getreten. Als ich noch einige Meter davon entfernt war, kam eine Frau auf mich zu, und an den Umrissen erkannte ich Tanja, meine Todfeindin. Die Beine begannen mir zu zittern, ich versuchte auszuweichen, trat seitwärts in den Schnee und erwartete jeden Moment einen Schlag oder einen Messerstich. Tanja blieb stehen:„ ,, Hast du eine Zigarette?", und auf mein brüskes ,, Nein" trat auch sie in den Schnee, klopfte mir auf die Schulter und sagte: ,, Laß man gut sein, ich hab's schon vergessen!" Auch so konnte eine Todfeindschaft enden.
Um diese Zeit kam es zu einem ganz sonderbaren Vorfall. Wir erfuhren davon erst, als man den politischen Häftling Irina, eine Geigerin, eines Tages zusammen mit einer jungen 16jährigen Asozialen nach Dolinki abtransportierte und gleichzeitig zwei andere Asoziale festnahm und ebenfalls fortschaffte. Erst nach Wochen erfuhren wir Einzelheiten über diese Verhaftungen. Die beiden Frauen, Asoziale, an die ich mich kaum noch erinnern kann, hatten aus irgendeinem Fetzen Papier ein Flugblatt hergestellt, auf dem gestanden haben soll: ,, Nieder mit Stalin !" Denunziert wurden sie durch das 16jährige Mädchen. Bei den ersten Verhören behaupteten die beiden Asozialen, daß Irina, die Geigerin, sie aufgefordert habe, dieses Flugblatt zu fabrizieren. Daraufhin wurden alle vier ins Gefängnis nach Dolinki gebracht. Bei den Verhören stellte sich heraus, daß die Geigerin von nichts wußte. Irina und die 16jährige wurden entlassen und kamen zum Weitertransport nach Burma in den Sammelpunkt des Lagers Karaganda . Die 16jährige Nina ging damals im fünften Monat schwanger. Ihre Denunziantenrolle war bereits im Lager bekannt. Im Sammelpunkt Karaganda lockte man sie unter irgendwelchen Vorwänden in eine Männerbaracke und verprügelte sie derart, daß sofort eine Fehlgeburt eintrat. Sie lag kurze Zeit im Krankenhaus des Sammelpunktes und wurde dann nach Burma abtransportiert. Da die Männer des Strafblocks sie zu erschlagen drohten, wurde sie schon nach drei Tagen mit unbekanntem Ziel als Einzeltransport von Burma fortgeschafft. Die entgeht ihrem Schicksal nicht!" meinte Tanja, meine ehemalige Todfeindin, als man sie aus dem Strafblock führte.
In diesen Tagen drang das Gerücht zu mir, daß in der Badestube mit einem neuen Transport die Frau des deutschen Kommunisten Hans Kiepenberger angekommen sei. Sie war zu fünf Jahren verurteilt worden. Sie kam auf einen Unterabschnitt, und ich hörte nie wieder von ihr.
Die Zugänge häuften sich. Es kamen Hunderte von Frauen, Opfer des neuen russischen Abortgesetzes. Im allgemeinen empfingen die Häftlinge diese Frauen mit Hohn und Gelächter.
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