schwunden. Nachts war nicht an Verfolgung zu denken. Wir erwarteten aufgeregt den nächsten Tag. Aber auch da erwischte man sie nicht. Und noch nach einer Woche waren sie in Freiheit.

Am nächsten Morgen kam ich zur Arbeit auf den Tog", begrüßte meine Freundin, die alte Zigeunerin mit dem einen Auge, die da Tog­Wächterin war und erzählte ihr die Neuigkeit. Ihr Gesicht verklärte sich: ,, Ja, ja, die Sina, das ist ein kluges Mädchen. Die hat es im Gefühl, daß irgendwo hier in der Steppe ein, Tabor sein muß. Und wenn sie das erreicht, dann ist sie gerettet. Ach, wenn man noch einmal so jung sein könnte!"

Darauf bot mir die Alte einen selbstbereiteten Kräutertee an, der zwar in der dreckigen Konservenbüchse sehr verdächtig aussah, aber ich durfte doch die Gastfreundschaft nicht verletzen. Ich reichte ihr dafür eine Prise Tabak für ihr kleines, silberbeschlagenes Pfeifchen. Wir blieben die ganze Zeit gute Freunde.

Aus Karaganda zu fliehen war ein schwieriges Unterfangen. Während der Erntezeit, wo die Getreidegarben auf den Feldern lagen, war es leichter, denn die Flüchtenden konnten nur nachts laufen und sich tags­über darin verbergen. Am Tage wurde das ganze Gebiet von berittenen Soldaten durchstreift. Die Fliehenden mußten die Berge am Rande des Lagergebietes zu erreichen versuchen, ungefähr vier Tage bergauf, berg­ab laufen, bis sie den Ort Karaganda erreichten. Von dort weiterzu­kommen war eine neue Schwierigkeit, denn der Bahnhof wurde selbst­verständlich überwacht. In meiner Karagandaer Zeit ist es trotzdem fünf Häftlingen gelungen zu entfliehen. Die drei anderen waren zwei krimi­nelle Männer und eine Frau. Sie hatten sich Pferde verschafft und sind entkommen. Eine ukrainische Bäuerin hat in ihrem entsetzlichen Heim­weh auch versucht zu entfliehen, wurde aber erwischt. Sie erhielt als Strafe zwei weitere Jahre Konzentrationslager und Strafblock.

Wir hatten niemals einen freien Sonntag oder einen freien Tag, nur während der Mai- und Novemberfeiertage wurden wir in die Baracke eingeschlossen und mußten nicht arbeiten, und wenn Mütterchen Natur uns gnädig war und einen Sandsturm schickte oder im Winter einen Schneesturm, dann konnten wir feiern.

So ein Sandsturm, der tagelang dauern kann, ist etwas Phantasti­sches. Karagandik heißt ein stachliges Gewächs der Steppe. Es ist rund wie eine Kugel und so groß wie ein Fußball. Um Heu gewinnen zu können, damit sich die Tiere die Schnauzen nicht zerstechen, gehen Häft­lingskolonnen mit Hacken über die Steppe, den Karagandik auszurotten. Die abgeschlagenen Pflanzen werden zu großen Haufen geschichtet und als Brennmaterial benutzt.

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