deutet, kann nur ein Mensch ermessen, der einmal wirklich gehungert hat. Das hieß, bis zum nächsten Mittag bei schwerer Arbeit nichts

zu essen.

Schon im ,, freien" Lager wurde geflucht, aber im Strafblock gab es kaum einen Häftling, der nicht das ganze Vokabularium russischer Flüche beherrschte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich überhaupt ihren Sinn erfaßt hatte, und es fiel wirklich schwer, nicht zu erröten. Für die Kriminellen und Asozialen war ich die ,, Njemeŋkaja Faschistka"( die deutsche Faschistin), denn so hatten sie die Zeitungspropaganda begriffen: deutsch war gleichzusetzen mit faschistisch. Außerdem eine Politische, also das verachtungswürdigste Geschöpf auf russischem Boden. Einmal hackte auf dem Feld in der Nebenfurche eine Asoziale. Es ergab sich, daß sie mich einigemale überholte und ich ihr dann wieder nachkam. Es wurden keine Worte gewechselt. Als wir aber wieder einmal auf gleicher Höhe hackten, schleuderte sie mir einen gewaschenen Fluch entgegen. Und da geschah es, daß ich ohne Überlegung mit einem noch derberen antwortete. Selten habe ich eine solche Hochachtung in einem Gesicht ge­sehen wie in dem jener Asozialen.

*

Bald nach dem Abschied von Boris kam ich in eine Kolonne zur Bekämpfung der Brzelose, jener Viehseuche, die in Karaganda soviele Opfer forderte. Abends, als wir müde und zerschlagen von der Arbeit heimkehrten, wurden fünfzig Namen aufgerufen, darunter auch ich und: ,, Sofort antreten mit Sachen!" Ein Häftling ist merkwürdig konservativ. Er will nicht fort aus der dreckigen, verwanzten Baracke, von diesem Stückchen Brett, an das er sich nun einmal gewöhnt hat, aber natürlich auch nicht fort von den schon bekannten Gesichtern.

Ein Ochsenwagen stand vor dem Stacheldraht des Strafblocks, und in der Dunkelheit wurden die Bündel mit viel Geschrei auf den Wagen geworfen, dann zu fünfen antreten, und ,, Dawaj, dawaj!" ging es hinaus in die dunkelnde Steppe, hinter den knarrenden Ochsenwagen her. Durch die kühle Nachtluft wurde man etwas munterer, bemerkte den gewaltigen Sternenhimmel über sich. So einen Himmel gibt es wohl nur in Wüsten und Steppen. Aber bald wurden die Beine schwer, man stolperte in den riesigen Gummischuhen über die ausgedörrten, holperigen Wagenspuren, die Marschierenden wirbelten Staub auf, bald hörte man keinen mehr reden, nur das monotone Zirpen der Grillen. Wenn man doch im Gehen schlafen könnte. Und wo wird dieser Marsch enden? Der Magen knurrt, und man erinnert sich an nächtliche Wanderungen, die irgendwo in einem Zuhause endeten, in einem wohligen Bett. ,, Dawaj, dawaj, baby!" brüllte der Brigadier, und für kurze Zeit ermunterte einen der Haẞ.

7 Buber: Gefangene.

97