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Funktion eines Lagerältesten inne hatte, bei uns vorbeigingen. Der Lagerälteste wandte sich an Boris: ,, Mach, daß du in eine Feldarbeiterkolonne kommst! Das könnte dir so passen, sich in der Gärtnerei herumzudrücken!" Boris widersprach:„ ,, Du weißt sehr gut, daß ich das Recht habe, leichte Arbeit zu machen." Was heißt hier Recht haben! Gesund und stark wie du bist!"", Wenn du mir nicht glaubst, wende dich an den Arzt", entgegnete ihm Boris gereizt. Der Kriminelle geriet in Wut und brüllte über den ganzen Platz:„ Ich weiß schon, was du in der Gärtnerei willst. Mit Greta, deinem Liebchen. Nicht? Ja, ja!" und allgemeines Gelächter antwortete ihm. In seiner Rage hatte der Lagerälteste ganz vergessen, daß ich kein Recht auf leichte Arbeit hatte. Nachdem er aber nun einen solchen Lacherfolg geerntet hatte, ging er mit einem großartigen Hau ab!" weiter, und wir marschierten mit der Gärtnereikolonne zum Tor hinaus.
In der Gärtnerei mußten wir mit der Hand das Unkraut aus einem Luzernefeld rupfen. Wir rutschten auf den Knien vorwärts und sangen leise vor uns hin. In unserer Reihe arbeitete eine junge Zigeunerin, und als der Gärtner, ein gefürchteter Antreiber, gerade einmal nicht zu sehen war, las sie uns die Zukunft aus der Hand. Da stand geschrieben, daß wir bald, sehr bald in die Freiheit gingen und uns noch viel Glück in diesem Leben erwartete.
Die Gärtnerei wurde künstlich bewässert durch den kleinen gestauten Teich, auf dem sich damals die beiden Enten niedergelassen hatten. Die Beete und Felder waren grün und fruchtbar. Sogar einige Pappelbäumchen gediehen dort. In deren Schatten saßen wir in der Mittagspause und erzählten uns unsere Träume, die ja im Leben der Häftlinge eine so große Rolle spielen. ,, Weißt du, Boris, gestern abend lag ich auf den Brettern mit dem Kopf am Barackenfenster und blickte in den Sternenhimmel. Dabei schlief ich ein und hatte einen ganz merkwürdigen Traum: langsam begann das Firmament zu kreisen, die Sterne verdichteten sich zu einer Kuppel von Rubinen, zu einer großen funkelnden Krone, und von der Höhe des Himmels führte eine breite Terrasse, so wie im Potsdamer Park, in Sanssouci , zu mir herab. Ich stieg hinauf, zog mich mühselig am seitlichen Geländer empor und stammelte:, Ach, könnte ich noch einmal glauben'. Die Stufen der Terrasse wurden immer steiler, und ich wußte, daß, wenn man die Kuppel erreichte, alles gut werden würde. Aber die Anstrengungen waren übermächtig, und ich erwachte, in Schweiß gebadet."
In der kurzen halben Stunde, die uns am Abend bis zur Lagerruhe blieb, saßen wir oft auf dem stinkenden Platz vor den Baracken. Es war ein neuer Transport angekommen, darunter auch einige georgische politische Häftlinge. Boris erzählte mir, daß einer von ihnen der achtzig Jahre alte Pflegevater des jetzigen Volkskommissars für Innere Ange
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