Sommer 1939 wurden für Feldarbeit bei geschafftem Pensum täglich zwanzig Kopeken gezahlt. Hatte man das Pensum nicht erreicht, erhielt man gar nichts. So konnte man im Monat bei stets erfülltem Pensum auf höchstens sechs Rubel kommen, aber ein Kilo Heringe im Lager­laden kostete 7.50 Rubel, ein Kilo Brot fast einen Rubel. Traktoristen, Agronomen und sonstiges technisches Personal wurden natürlich besser bezahlt. Ich hörte, daß ein Mähdrescherführer im Monat über 100 Rubel verdiente.

Von dem gestuften Ernährungssystem habe ich schon gesprochen. Im Sommer 1939 wurde eingeführt, daß das agro- technische Personal, das der vierten und besten Küche zugeteilt war, das Essen vom Verdienst zu bezahlen hätte.

Während meiner Bürozeit gehörte ich zur zweiten Küche, war aber immer hungrig. In dieser Zeit wohnte ich in der Baracke jenseits des kleinen Teiches. Um dorthin zu gelangen, mußte man über einen Stau­damm gehen. Der Damm war von Häftlingen erbaut worden, um ein Wasserreservoir für die Lagergärtnerei zu schaffen. Auf der anderen Seite des Staudammes, in einer leichten Bodensenke, lag die Gärtnerei mit künstlich bewässerten Kartoffelfeldern, Tomaten­pflanzungen, Melonenbeeten, vielen Gemüsearten und Treibhäusern. Auf dem Steppenboden gedieh alles vorzüglich, wenn man für das nötige Wasser sorgte. Die Ernte aus der Gärtnerei kam aber dem einfachen Häftling nicht zugute. Ich kann mich nicht erinnern, daß sich jemals eine Kartoffel in die Suppe der untersten Küche verirrt hätte.

Meine Wohnbaracke war eine Lehmhütte mit einer so niedrigen Stubendecke, daß man sie mit der Hand erreichen konnte, Wände und Decke waren unbeworfen, rauh und ein Eldorado für Wanzen. Der Fuß­boden bestand aus gestampftem Lehm, konnte also nur trocken gefegt werden und beherbergte eine ganz besonders kräftige Flohrasse, die doppelt so groß war wie unsere westeuropäische. Die Baracke hatte winzige Fenster, wo die fehlenden Scheiben mit Lumpen ausgestopft waren. Ich schlief, wie schon erwähnt, auf einer ausgehängten Tür, selbstverständlich ohne Strohsack, ohne Kopfkeil. Decken hatte nur, wer sie von zu Hause mitbrachte. Die Baracke war in zehn Räume eingeteilt. Drei zusammenhängende Räume hatten eine gemeinsame Ausgangstür zum Korridor, und für die Sicherheit und gewisse Dienstleistungen stellten sich die Häftlinge eine ,, Newalnaja" an. Das war meistens ein alter, arbeitsunfähiger Häftling, der vom Lager keinerlei Entlohnung hekam und dem jeder aus dem Zimmer monatlich etwas Geld gab. Für die zahlenden Mitglieder des Hauses holte unsere ,, Newalnaja", die eine Kriminelle war, mittags die Suppe und machte ihnen alle möglichen Handreichungen, für Habenichtse" wie mich tat sie keinen Schlag, son­dern behandelte sie wie lästige Parasiten.

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