Die Newalnaja" eines anderen Raumes in dieser Baracke war eine sechzigjährige Berlinerin, Margarete Pawlowna, mit einer dicken Brille, ins Gesicht hängenden grauen Haarsträhnen, geschwollenen Beinen und Säcken unter den Augen. Sie erzählte mir, und ihre Brille war von Tränen beschlagen, daß ihre beiden Söhne, der eine davon als Schau­spieler, nach 1933 in die Sowjetunion emigriert wären und sie mit her­ausgenommen hätten. Beide wurden verhaftet und sie nach ihnen. Der russische Untersuchungsrichter habe sie aufgefordert, die russische Staats­bürgerschaft anzunehmen, und sie wagte nicht ,, nein" zu sagen, weil sie fürchtete, dann nie mehr im Leben ihre Söhne wiederzusehen. Aber wenn sie gewußt hätte, daß man sie alte, arbeitsunfähige Frau nach Sibirien schicken würde, wäre es besser gewesen, nach Hitlerdeutschland zurückzugehen.

In unserer Baracke war ein Raum für Mütter und Kinder. Als ich dieses Zimmer betrat, mußten sich meine Augen erst an den dichten Qualm gewöhnen, um richtig sehen zu können. Von der Zimmerdecke hingen an Stricken Holzkisten, und in diesen Kisten lagen in Lumpen gewickelt die Babys. Aber in Burma blieben Mütter und Kinder nicht lange, sie wurden auf Ochsenwagen in sogenannte Kinderabschnitte be­fördert. Frauen, die kurze Strafen hatten, und das waren nur kriminelle und asoziale, konnten bis zur Entlassung bei ihren Kindern bleiben.

Nachdem ich erfahren hatte, daß man für Udarnikiarbeit bezahlt bekommt, borgte ich mir sechzig Kopeken von Klement Nikifrewitsch und ging stolz in die Badestube zum georgischen Friseur. Die Begrüßung war sehr herzlich. ,, Wie gefällt Ihnen denn Ihre Arbeit? Zu welcher Küche gehören Sie?" leitete der Friseur das Gespräch ein, während er sehr langsam und ausführlich an meinen Haaren herumschnitt, um mich dann ohne Überleitung zu fragen: ,, Haben Sie eigentlich schon einen Lagermann?" Ich verneinte lachend. Nach einer kurzen Pause: ,, Wollen Sie nicht meine Lagerfrau werden? Ich verdiene 25 Rubel im Monat und habe gute Beziehungen zur Küche, bekomme Fleisch und alles mögliche. Außerdem schlafe ich in einem eigenen Raum, und wenn Sie meine Frau sind, können Sie sich täglich in der Badestube waschen." Das alles sprudelte er wie auswendig gelernt hervor. Als ich einwandte, daß das doch nicht genüge, um sich zu verheiraten, daß man sich doch eigentlich kennen und lieben müßte, meinte er: ,, Ja, ich verstehe schon, das auch, aber in Sibirien muß eine Frau sich vor allem einen Lagermann nehmen, um nicht zu verhungern." Ich versprach ihm, mir das durch den Kopf gehen zu lassen und ihm irgendwann Bescheid zu sagen. ,, Ich warte acht Tage auf Sie. Versprechen Sie mir, sich bis dahin entschieden zu haben?!"

Als ich eines Abends aus dem Büro kam, erwartete mich auf der Lagerstraße ein Arbeiter aus der Schmiede der Reparaturwerkstatt. Er fragte mich, wie lange ich schon in Sibirien sei, woher ich käme und zu

6 Buber: Gefangene.

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