nie mehr erwachen! Es mochten acht, zehn oder zwölf Tage seit Moskau vergangen sein, da riẞ uns das Kommando: Alles fertigmachen!" aus unserer Lethargie. Sisrin war erreicht, unser erstes Etappengefängnis. Ganz erschöpft und verdreckt krochen wir heraus. ,, Dawaj, dawaj! Zu fünfen antreten!" und los ging es im Tempo über die Eisenbahnschienen. Beim Güterbahnhof standen zwei Lastautos. Wir zerrten uns gegenseitig hinauf. Die kalte Luft machte einen schwindlig. Man zwängte immer mehr Häftlinge auf das Auto, und dann ging's los in schneller Fahrt durch die Stadt, in der es nur Holzhäuser zu geben schien. Und eins sah aus wie das andere. Ich stand am Rand und hielt mich krampfhaft an einer Eisenkette fest. Zwei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett saßen auf der Rückwand des Lastautos. Ein kleiner Junge auf Schlittschuhen raste ein Stück neben uns her und schrie aus voller Kehle: Wragi naroda! Wragi naroda!"( Volksfeinde.)

Das überfüllte Gefängnis von Sisrin nahm uns auf. Eine verfault riechende, dunkle Badestube, Entlausung und dann endlich eine Zelle. Die war naẞ wie ein Felsenkeller, mit Pritschen aus ungehobelten Bret­tern. Wir erfuhren, daß das Gefängnis früher eine Gerberei gewesen sei. Man brachte uns eine Suppe, die zwar warm, aber sauer war. Wir ver­schlangen sie mit Heißhunger. Nachts schreckte ich aus dem Schlaf. Auf unseren Pritschen und auf dem Fußboden wimmelte es von Ratten, die sich quietschend um unser getrocknetes Brot balgten und so ,, zutraulich" waren, daß sie über die Körper der Schlafenden trippelten. Als es Tag wurde, stellten wir fest, daß alle Brotsäcke talergroße Löcher hatten.

Drei Tage durften wir in diesem Rattenparadies ausruhen. Dann ging es weiter. Unser Transport hatte sich um einige politische Männer­häftlinge, mehrere Offiziersfrauen, fünf Hochschwangere, eine siebzig­jährige Frau und zwei Kriminelle vergrößert.

Den Weg zur Bahn mußten wir zu Fuß zurücklegen. Auf der dunklen, verschneiten Straße marschierte unsere Kolonne. Die Schwan­geren und die Alte stapften mühsam in ihren Walinki( Filzstiefel) in der letzten Reihe. ,, Dawaj, bejstreje!"( Los, schneller) bellte ein junger rus­sischer Posten. ,, Nicht zurückbleiben, Weiber!" Die Kolonne zog sich immer mehr auseinander. ,, Genossen da vorne, eilt nicht so, die Frauen können nicht Schritt halten!" Die Kolonne stand, und ein paar Männer­häftlinge lösten sich aus der Reihe. Trotz wütender Proteste der Posten kamen sie zu den Frauen: ,, Gebt eure Bündel her! Geht nach vorn in die erste Reihe und gebt ihr das Tempo an! Laßt die Soldaten ruhig brüllen!" Sofort folgten ihrem Beispiel auch andere Männer, und wir gingen ohne die Säcke leicht und unbeschwert bis zum Güterbahnhof.

Im Waggon begann eine förmliche Schlacht um die Plätze. Erst nach großem Krach räumte der begleitende NKWD - Natschalnik noch ein Ab­teil für die Frauen. In unserem Coupé hatten sich die beiden Kriminellen

5 Buber: Gefangene.

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