griffen zu einer anderen Maßnahme: sie pinkelten einfach durchs Gitter auf den Gang hinaus.
Von den sechzehn Frauen in unserem Abteil kannte ich nur die fünf aus Butirki. Die übrigen kamen aus einem anderen Moskauer Untersuchungsgefängnis. Alle zehn waren Politische. Unbegreiflich schien mir die gute Laune der meisten. Wir befanden uns auf dem Wege nach Sibirien , alle hatten Urteile zwischen fünf und zehn Jahren; wir lagen zusammengepreßt, nur mit Mühe konnte man die Arme bewegen, und an richtigen Schlaf war nicht zu denken. Was machten aber die Frauen? Beim Abtransport aus dem Gefängnis hatten sie ihre Handtasche zurückerhalten und damit Spiegel, Puder und Lippenstift. Sie puderten und schminkten sich und begannen, durch das Gitter mit der Begleitmannschaft zu kokettieren. Was habe ich damals das weibliche Geschlecht gehaẞt! Wie konnten sie nur denen zulächeln und freundliche Worte geben, die mithalfen, uns die Freiheit zu rauben und die ein Teil des NKWDApparates waren? Traurig und bedrückt waren nur Stefanie, Rebekka Sagorje, Grete Sonntag und ein ungefähr zweiundzwanzigjähriges, stilles, blondes Mädchen, das so richtig aussah wie ein Haustöchterchen. Neben der dreiundzwanzigjährigen, lauten Nadja Bereskina wirkte sie wie sechzehnjährig. Jedesmal, wenn sie Name, Straftat und-dauer hersagen mußte, bekam sie einen roten Kopf. ,, Konterrevolutionäre Organisation. Acht Jahre!"
Wir kamen in ein Gespräch. Sie hatte als Sekretärin bei einem Fabrikdirektor gearbeitet. Politik interessierte sie nie. Beim Untersuchungsrichter war ihr eine Anklage vorgelegt worden, wonach sie zusammen mit ihrem Chef und dreißig ihr zum großen Teil Unbekannten in einer konterrevolutionären, trotzkistischen Organisation tätig gewesen sei, die Sabotageakte in ihrer Fabrik durchgeführt habe. Sie erklärte beim Verhör, nichts davon zu wissen, nie etwas derartiges von ihrem Chef gehört zu haben. Der Untersuchungsrichter forderte sie unter Drohungen auf, ihre Verbrechen einzugestehen. Sie beteuerte immer wieder ihre Unschuld, da ließ er sie mit kurzen Unterbrechungen zwei Tage lang stehen. Als sie aber auch dann noch nicht die gewünschte Aussage machte, packte er sie am Hals und würgte sie solange, bis sie das Bewußtsein verlor. Dann unterschrieb sie alles. Darauf verhaftete die NKWD ihren ehemaligen Chef und dreißig andere.
Nach ein paar Tagen im Stolypin- Waggon ließ die Munterkeit der Frauen merklich nach. Man wußte kaum noch, ob es Tag oder Nacht sei. Alle lagen oder kauerten mit angezogenen Beinen und dösten vor sich hin. Einige wollten wissen, daß wir schon hinter Kasan seien. Manchmal hielt unser Waggon einen ganzen Tag. Dann war die Luft zum Ersticken. Der Wasserhahn im Klosett tropfte schon lange nicht mehr. Wozu auch waschen, es war alles so gleichgültig. Wenn man nur schlafen könnte und
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