Vor dem Gitter ging der Posten auf und ab. Wir saßen im Dunkeln und flüsterten. Um uns schnarchte und stank es. Aus irgendeiner Ecke kam das Getuschel sich Liebender. Nach Monaten, manchmal nach jahrelanger Untersuchungshaft kamen hier in dieser Höhle Männer und Frauen das erstemal wieder zusammen. Und das Bedürfnis zu lieben, ließ die Menschen alle überlebten Leiden und die Angst vor dem Kommenden vergessen.
,, Aber warum hat man euch denn nach Moskau zurückgeholt? Erzähle bitte alles", bat Stefanie Brun. ,, Das ist das schändlichste und traurigste Kapitel. Der ehemalige Direktor der Karl- Liebknecht- Schule', der auch als Häftling in Kolyma war, hat uns denunziert, der LagerNKWD verraten, in der Hoffnung, dadurch seine Strafzeit zu verkürzen. Er behauptete, wir seien nicht nur Trotzkisten, sondern auch Spione. Daraufhin hat man uns zurück nach Moskau transportiert. Wir haben sieben Monate in Butirki gesessen. Beim Untersuchungsrichter hat man uns unmenschlich geprügelt. Den Gresetzki haben sie auf eine heiße Zentralheizung gesetzt, bis er sich den Hintern verbrüht hat. Aber das gefälschte Protokoll haben wir trotzdem nicht unterschrieben. So blieb es bei dem ersten Urteil von fünf Jahren, und jetzt geht's zurück für noch einmal zweieinhalb Jahre. Ob wir das überleben? Ich glaube kaum. Weißt du, mein Vater wohnt in Berlin in der Bergstraße Nummer 5. Wenn du am Leben bleiben solltest, schicke ihm doch eine Nachricht, damit er erfährt, wie ich enden mußte..."
Litten war 27 Jahre alt. Als ich am nächsten Morgen sein Gesicht bei Tageslicht sah, wußte ich, daß er aufgegeben hatte...
Am Morgen darauf begann man Transporte zusammenzustellen. Zuerst kamen die nach Zentralsibirien und dem Fernen Osten, dann gingen die nach Nordsibirien, mit ihnen Litten und Gresetzki. Wir drückten uns die Hände zum Abschied und Litten drehte den Kopf weg, weil wir seine Tränen nicht sehen sollten.
Mit dem Transport nach Norden wurden auch zwei von unseren Frauen aufgerufen: die Kusine des Marschalls Jakir und die alte Kominternangestellte.
So gegen Mittag stellte man eine Gruppe von fünfzehn Frauen und vielen Männern zusammen. Stefanie Brun, Grete Sonntag, Rebekka Sagorje, Nadja Bereskina, die junge achtzehnjährige Polin und ich waren unter ihnen. Zu fünfen angetreten, den Sack auf dem Rücken, ging es im Eiltempo über die Schienen, immer dem Bahndamm entlang bis zu einem ,, Stolypin- Waggon"( Gefangenenwagen). ,, Halt!" Nun schon das dritte Mal im Laufe einer Stunde wurden wir aufgerufen und mußten uns melden: Gefangenennummer, Namen, Straftat und Dauer der Haft: ,, Nr. 174 475 Margarita Genrichowna Buber- Nejman, Sozialny Opasny
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